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Jessica öffnet die Tür. Davor steht der angetrunkene, spitzbübisch lächelnde Fubu.
»Was machst du hier?«, fragt sie und schielt zu der Waffe, die sie rasch auf die Hutablage geschoben hat.
»Sorry, Bulle. Wir waren in einer Kneipe ganz in der Nähe und …«
»Ich hab doch gesagt, wir können uns vielleicht heute Abend treffen«, beginnt Jessica, erinnert sich dann aber daran, dass der Mann von der Sicherheitspolizei noch am Telefon ist. Sie späht in das leere Treppenhaus, lässt Fubu ein und greift nach ihrem Handy.
»Besuch von einem Freund«, sagt sie und sieht Fubu an, der seine nasse Jacke auszieht und an die Garderobe hängt.
»Alles klar
.«
»Danke euch«, erwidert Jessica und legt auf.
»Arbeit?« Fubu zieht die Schuhe aus, geht ins Zimmer und lässt sich auf das Sofa fallen.
»Hab ich doch gesagt.« Jessica nimmt ein Glas aus dem Geschirrschrank und füllt es mit Leitungswasser.
»Ich hab mein Handy verloren«, erklärt Fubu verlegen grinsend.
»Du hast mir doch vor zwei Stunden noch eine Nachricht geschickt.«
»Genau. Und danach ist es verschwunden … Vielleicht geklaut. Ich weiß nicht.«
»Wo?«, fragt Jessica und leert ihr Glas.
»In einer Kneipe in Kamppi. Da hängen alle möglichen Typen rum. Fuck!«
»Und da hast du beschlossen, herzukommen. Du weißt doch, dass ich keine Strafanzeigen aufnehme.«
»Ich dachte, wir könnten das Date vielleicht vorverlegen.«
»Immerhin bist du fitter als beim letzten Mal«, sagt Jessica und
setzt sich an den kleinen Esstisch.
»Sorry. Ich war ziemlich blau.«
»Allerdings.«
»Na, wie steht’s?«
»Was?«
»Kann ich hierbleiben?«
»Ich muss arbeiten.«
»Kannst du ja. Ich setz mich solang vor den Fernseher. First Netflix. Then chill
«, sagt Fubu breit lächelnd. Er hat immer noch seine rotblaue Montreal-Canadians-Mütze mit der großen Bommel auf. Aus den aufgerollten Ärmeln seines Hoodys ragen magere, aber sehnige Arme mit ein paar absichtlich geschmacklosen Tätowierungen. Jessica stellt das Glas auf den Tisch und reibt sich die Stirn. Die letzten vierundzwanzig Stunden waren aufreibend. Jede einzelne Faser in ihrem Körper weiß, dass noch mehr zu erwarten ist. Dass man ihr weiterhin Angst einjagen wird. Leib und Seele schreien nach einer kleinen Pause, nach einer kurzen Auszeit von der Realität. Dazu ist Fubu ja hier. Alles ist bereit. Fünfzehn Minuten. Doch irgendetwas daran kommt ihr falsch vor. Nach all den Todesfällen, die sie in den letzten Stunden erlebt hat, kann Genuss nicht richtig sein.
»Sorry«, sagt sie, steht auf und stemmt die Hände in die Hüften. »Du musst jetzt gehen. Ich hab einfach zu viel zu tun.«
Fubus Mundwinkel sinken übertrieben nach unten wie bei einer tragischen Clownsfigur. Dann klatscht er in die Hände und springt überraschend flink vom Sofa auf.
»Fuck, aber was soll’s. Dann geh ich halt wieder in die Nacht hinaus«, sagt er achselzuckend und stiefelt in die Diele. Gerade das gefällt Jessica an Fubu. Er ist selbstsicher, oft auch rüde und draufgängerisch. Aber er fängt nie an zu quengeln und versteht das Wort Nein
beim ersten Mal. Er ist daran gewöhnt, eins in die Fresse zu kriegen.
»Ich kapier’s bloß nicht«, sagt er plötzlich, während er sich die Schuhe anzieht.
»Was kapierst du nicht?«
»Warum du dich so anstellst. Warum kann ich nicht einfach bleiben?«
Jessica spürt, dass ihr gleich der Geduldsfaden reißen wird. Fubu ist doch quengelig geworden.
»Geh jetzt.«
»Wovor hast du Angst?«
»Jetzt, verdammt!«
Fubu lächelt, nickt und schnürt seine Schuhe.
»Okay. Aber vergiss nicht, Bulle, wenn ich jetzt ins Storyville geh und noch ein paar Bier tanke und geil werde … Irgendeine Mimi, die fast so toll ist wie du, kommt bestimmt mit. Und dann ärgerst du dich. Du guckst dir einen deutschen Krimi an und fingerst allein an dir rum …«
»Das Risiko geh ich ein«, erwidert Jessica, ebenfalls lächelnd.
»Ruf mich an, wenn du es dir anders überlegst«, sagt Fubu, wieder ernst geworden, öffnet die Wohnungstür und schlägt sich an die Stirn. »Nee, kannst du ja nicht, weil ich mein Handy nicht hab.«
Jessica nimmt einen Stift vom Tisch, reißt einen Streifen von einer alten Zeitung ab und schreibt ihre Nummer darauf. Dann geht sie zur Tür, packt Fubu an der Nase und steckt ihm den Zettel in den Kragen.
»Gib nie auf.«
Fubu verschwindet im Treppenhaus. Jessica lehnt sich gegen die geschlossene Tür und merkt, dass ihr Herz heftig pocht. Sie holt tief Luft. Jetzt braucht sie unbedingt einen klaren Kopf. Sie muss arbeiten. Aber zum ersten Mal seit Jahren erscheint es ihr falsch, in die andere Wohnung zurückzukehren, die ihr plötzlich fremd und zu groß vorkommt. Sie wird ihren Laptop holen und die Nacht in ihrer Einzimmerwohnung verbringen, da, wo alle anderen sie vermuten.