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Nina Ruska streckt eine Hand über den Kopf zum Schulterblatt und drückt mit der anderen auf den Ellbogen. Der Streckmuskel dehnt sich langsam. Von dem Wettkampf vor zwei Tagen sind sowohl die Arme als auch der Nacken immer noch verkrampft. Es war schon mehr als ein Jahr vergangen, seit sie das letzte Mal auf der Tatami gelegen hat, den Arm des Gegners im Nacken. Außer den schmerzenden und steifen Muskeln fuchst Nina die Tatsache, dass sie gegen eine zehn Jahre jüngere Kollegin aus Ostfinnland verloren hat. Obendrein ziemlich hoch.
»Der Stoff, den wir suchen, ist nicht Thiopental«, sagt Mikael und dreht seinen Stuhl. Er hat den Hörer eines der letzten Festnetztelefone der Etage an die Brust gedrückt und legt ihn nun auf den Tisch.
»Wieso nicht?«
»Ich hab mit dem Labor geredet. Wir suchen Natriumthiopental. Das wird im Organismus zu Thiopental.«
»Was haben sie sonst noch gesagt?«, fragt Nina und lässt die Arme sinken.
»Ich hab alles aufgeschrieben, warte mal.« Mikael nimmt seinen Block vom Tisch. »Drei Substanzen … Zuerst macht Natriumthiopental das Opfer bewusstlos. In weniger als einer Minute.«
»Hat das nicht schon das Chloroform getan? Bewusstlos gemacht?«
»Doch. Es lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, warum beides verwendet wurde, aber das Labor hat eine ganz passable Theorie.«
»Welche?«
»Das Chloroform ist über die Atemwege in den Körper des Opfers gelangt. Die anderen Stoffe wurden intravenös verabreicht. Im Labor vermuten sie, dass die Chloroformbetäubung zuerst eingesetzt wurde, damit die Opfer leichter zu behandeln waren. Es ist verdammt schwierig, die Kanüle anzubringen, wenn die Patientin sich wehrt.«
»Leuchtet ein«, sagt Nina, während Mikael eine Kaugummipackung aus der Schublade klaubt.
»Danach wurde Natriumthiopental injiziert, das die Bewusstlosigkeit sicherstellt. Dann Pancu…« Mikael steckt sich zwei Kaugummis in den Mund und beugt sich vor, um seine Notizen genauer anzusehen. »… Pancuroniumbromid. Das ist ein Muskelrelaxans, das die Atemorgane lähmt. Und zum Schluss Kaliumchlorid, das zum Herzstillstand führt.«
»Und alle drei wurden über eine Kanüle zugeführt?«
»Ja. Darauf weisen die Blutergüsse auf dem Handrücken hin.«
»Das setzt ja eine gewisse Fachkenntnis voraus. Und vielleicht auch Zubehör – ein Dosiergerät und dergleichen. Einen Infusionsbeutel mit Ständer?«
»Eben. Die Stoffe wurden nicht blindlings in den Blutkreislauf der Opfer gespritzt, sondern in genau abgemessener Menge. Der Gehalt im Blut von Maria Koponen und Lea Blomqvist ist nahezu identisch. Das wiederum bedeutet, dass die Medikamente nach ihrem Körpergewicht dosiert wurden. Die Opfer wurden wahrscheinlich gewogen, damit man ihnen exakt die wirksame Dosis verabreichen konnte. Der Mörder war also nicht nur fähig, die Kanüle anzubringen, sondern auch die tödliche Dosis präzise zu berechnen.«
»Sagst du es oder ich?«
»Der Täter ist Arzt.«
»Oder Krankenpfleger.«
»Oder Tierarzt.«
Eine Weile starren Nina und Mikael sich an, so wie sie sich manchmal ansehen, nachdem sie sich geliebt haben, nachdenklich und wortlos. Jetzt denken sie jedoch beide einzig und allein an den Fall.
»Oder auch nicht«, sagt Nina schließlich und verschränkt die Arme. »An sich erfordert der Eingriff ja keine jahrelange Spezialisierung. Wahrscheinlich findet man die Anleitungen im magischen Internet.«
»Aber für jemanden aus dem Gesundheitswesen ist es erheblich leichter, an die Medikamente ranzukommen.«
»Warum sollte es in Krankenhäusern tödliche Gifte geben?«
»Keiner der Stoffe ist direkt als Gift einzustufen. Thiopental wird als Betäubungsmittel verwendet, ebenso Pancu… Pancuroniumbromid, das auch bei relativ einfachen Eingriffen verwendet wird, die eine Anästhesie erfordern. Beide findet man in jeder Klinik.«
»Und Kaliumchlorid?«
»E 508.«
»Was?«
»Ein Zusatzstoff. Steckt auch in der Tiefkühlpizza aus dem Supermarkt. Tödlich ist es nur in großer Dosis. In kleinen Mengen ist es sogar gesundheitsfördernd.«
»Scheiße. Dann ist es vielleicht doch nicht so leicht, das Zeug aufzuspüren«, sagt Nina.
»Vielleicht nicht. Oder doch. Jetzt wissen wir immerhin, dass die Täter sich nicht unbedingt auf dem Schwarzmarkt eindecken mussten. Was die beiden ersten Chemikalien angeht, führen die Kliniken über Substanzen und Medikamente genauestens Buch.«
»Und Maria Koponens Arbeitsplatz? Neuropharm? Da werden doch Medikamente hergestellt …«
»Die Möglichkeit können wir ausschließen«, sagt Mikael und reicht Nina einen Ausdruck. »Die Firma stellt Neuroleptika her, also antipsychotische Arzneien, die sie an Pillenhersteller weiterverkauft. Hier ist die Liste.«
Nina betrachtet sie eine Weile und seufzt enttäuscht.
»Was ist mit Torsten Karlstedt und Kai Lehtinen?« Sie steht auf und geht zur Wand, an der ein kontrolliertes Chaos von Fotos, Post-its und Papierbögen herrscht. Sie drückt den Klebstreifen, mit dem die Fotos der beiden Männer befestigt sind, fester gegen die Wandtafel. »IT -Unternehmer und Baumeister. Hat einer der beiden irgendwelche Verbindungen zu Krankenhäusern oder Arzneilagern?«
»Das muss sofort geklärt werden.« Wieder hebt Mikael den Hörer des Festnetztelefons ab. Bevor er wählt, hält er jedoch inne und betrachtet Nina. Ihr Gesicht verrät, dass sie in dieser Sekunde nicht über den Fall als solchen nachdenkt. Nina liebt ihre Arbeit, und wenn sie sich in einen Fall vertieft, wirkt sie oft wie eine Schülerin, die Bestnoten im Abitur anstrebt: nachdenklich, ruhig, zielbewusst. Jetzt steht ihr die Sorge ins Gesicht geschrieben.
»Denkst du an Jessica?«, fragt Mikael und legt den Hörer auf. Nina nickt, bleibt vor der Mindmap stehen und stemmt die Hände in die Hüften.
»Jessica kommt schon klar«, sagt Mikael.
»Zweifellos, aber … Jemand ist zu nah.«
»Der Fall wird aufgeklärt.«
»Hast du dir jemals überlegt, dass die Möglichkeit, einen Mord quasi aus der Vogelperspektive zu untersuchen, eine Art Luxus ist? Dass es ein Privileg ist, Probleme zu lösen, die nicht … reaktiv sind. Dynamisch. Probleme, die sich nicht ständig verändern, während wir die Spuren verfolgen.«
»Nein, aber ich verstehe, was du meinst. Das hier ist leider nicht so ein Fall.«
»Nein, ist er nicht. Ganz im Gegenteil. Er ist wie eine beschissene Superbakterie, die trotz Antibiotika lebt und sich entwickelt.«
»Sind wir die Antibiotika?«
»Wow, du hast die Metapher verstanden.«
»Verstehst du diese Metapher?«, fragt Mikael mit tiefer Stimme und macht mit den Fingern eine anzügliche Geste.
»Du bist ein Idiot, Micke. Ruf endlich an, verdammt«, sagt Nina und verschwindet im Flur.