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Jessica wirft einen Blick auf das Display ihres Handys. Es ist die Zeit für Wünsche, 22:22. Entgegen jeder Wahrscheinlichkeit blicken die Menschen zu diesem Zeitpunkt überraschend oft auf die Uhr. Natürlich handelt es sich um eine Täuschung, um einen Denkfehler, der darauf beruht, dass einem 22:22 leichter im Gedächtnis bleibt als zum Beispiel 21:19. Dennoch erscheint die Uhrzeit besonders ominös an diesem dunklen Abend, an dem der Wind in den Schornsteinen heult und die Rahmen der alten Fenster knacken lässt.
Im Kochtopf brodelt Wasser. In ihrer Einzimmerwohnung hat Jessica keinen Wasserkocher. Vielleicht deshalb, weil sie dort nie richtig gewohnt hat oder weil der fehlende Wasserkocher ihre Tarnlegende bestätigt: Ihr Zuhause ist eine schlecht ausgestattete und schäbige Single-Bude. Jedenfalls schmeckt heißes Wasser gleich, egal ob es in einem unbeschichteten Topf oder in einem cremefarbenen Marken-Wasserkocher erhitzt wird.
Jessica trinkt den alten, längst kalt gewordenen Tee. Auf dem Tisch liegen nun insgesamt siebzehn A4-Bögen, einige in kleinere Zettel zerrissen, andere zu größeren Einheiten zusammengeklebt. Unter den Fotos der Taten und der Opfer stehen einige Sätze aus Roger Koponens Büchern, Textfragmente, die vermutlich als Vorbilder für die Morde gedient haben. Aber ist ihr und den anderen im Team etwas entgangen, weil sie sich darauf konzentriert haben, in Koponens Büchern nach Hinweisen zu suchen? Jessica erinnert sich an Mikaels Worte: Wir wissen genau das, was sie uns wissen lassen wollen. Nur das und nichts anderes . Mikaels zynischer Pessimismus ist oft irritierend, aber er hat häufig recht.
Jessica leert ihre Tasse und bekommt einen Tropfen in den falschen Hals. Sie hustet und glaubt einen Moment lang zu wissen, wie es sich anfühlt, zu ertrinken. Wenn sich die in die Luftröhre eingedrungene Flüssigkeit nicht raushusten lässt, sondern die Lunge füllt und die Sauerstoffzufuhr blockiert.
Jessica geht zur Spüle, putzt sich die Nase und gießt kochendes Wasser in die Tasse. Sie öffnet den Küchenschrank und tastet nach dem Glas mit den Teebeuteln. Es ist fast leer, und die beiden letzten Beutel enthalten irgendeinen miesen Vanilletee.
Im selben Moment klingelt ihr Handy. Wieder eine Nummer, die sie nicht kennt und womöglich von der Polizeizentrale durchgestellt wird. Es ist nicht die des Sicherheitspolizisten, der sie früher angerufen hat. Es könnte Fubu sein, der sich von einem Kumpel das Handy geliehen hat. Er ist ein hartnäckiger Typ.
»Niemi.«
»Hallo?« Die Frauenstimme klingt unsicher und ängstlich.
»Geht es um eine Polizeiangelegenheit?«
»Ja«, antwortet die Frau rasch. Im Hintergrund ist ein Läuten zu hören, wie von einer Kuhglocke. Dann Gemurmel, die Frau hat offenbar die Hand auf den Hörer gelegt und spricht mit irgendwem. Einige Sekunden später hüstelt sie.
»Entschuldigung. Ich … Ja, deshalb rufe ich an.«
»In Ordnung. Worum geht es?«, fragt Jessica und setzt sich wieder an den Tisch. Sie hört, wie ein oder zwei Stockwerke unter ihr eine Tür geht.
»Also … Mein Name ist Irma Helle. Ich besitze ein Geschäft für Damenmode hier in der Korkeavuorenkatu.«
Jessica fixiert die Papierbögen.
»Was für ein Modegeschäft?«, fragt sie konzentriert.
»Eine Schneiderei. Festkleidung …«
Im Treppenhaus kläfft ein kleiner Hund.
»Ja?«
»Moment«, sagt die Frau und spricht erneut mit jemandem. Jessica erinnert sich an das Läuten, das sie gehört hat. Es kam offenbar von einer Türglocke, die eintretende Kundinnen meldet.
»Ist das Geschäft um diese Zeit geöffnet?«
»Natürlich nicht. Es ist ja schon … Aber ich muss noch etwas fertig nähen.«
»Sind Sie allein?«, fragt Jessica, ohne zu wissen, warum ihr diese Frage wichtig erscheint.
»Ich hatte nur vergessen, abzuschließen und … Na, jetzt bin ich allein.«
»Gut«, sagt Jessica und streicht sich die Haare aus der Stirn. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich habe bei der Hotline angerufen, die …«
»Genau, ein Teil der Anrufe wird direkt zu mir durchgestellt. Ich bin die Hauptermittlerin, Kriminalhauptmeisterin Jessica Niemi von der Helsinkier Polizei«, erklärt Jessica und spürt, dass ihre Fingerspitzen vor Spannung prickeln. Sie ahnt, warum die Frau anruft, sie weiß, dass es um die Abendkleider geht, die man den Opfern angezogen hat.
»Ich habe Maria Koponen gekannt«, sagt die Frau und legt eine längere Pause ein. »Sie war als Kundin hier. Einige Male.«
Jessica strafft sich und greift nach dem Stift. Sie platzt beinahe vor Neugier, beschließt aber, still zu sein und genau zuzuhören.
»Ich war sehr erschüttert, als ich erfuhr, dass sie … Sie wurde ermordet …«
»Genau.«
»Aber dann hat meine Tochter mich angerufen. Sie hilft mir gelegentlich. Kennt sich mit Damenbekleidung und Mode sehr gut aus. Sie studiert im Fachbereich Textilien und Mode.«
»Was hat Ihre Tochter gesagt?«
»Sie hatte ein YouTube-Video gesehen. Das hat am Morgen unter den Studentinnen die Runde gemacht.«
Jessica kratzt sich im Nacken. Irma Helles Tochter hat das Video von der toten Maria Koponen gesehen. Das Video, das fast sofort vom Server entfernt wurde, aber bereits begonnen hatte, sein eigenes Leben zu führen. Wieder hört Jessica die fast hypnotisch wiederholten Worte. Malleus Maleficarum. Malleus Maleficarum .
»Meine Tochter war schockiert. Sie kennt Maria Koponen nicht, aber sie hat das Kleid erkannt, das sie anhatte.«
»Ist dieses Kleid in Ihrer Schneiderei genäht worden?«
»Ja. Daran besteht kein Zweifel«, antwortet Irma Helle und klingt plötzlich zutiefst erschüttert. »Um Himmels willen. Meine Tochter hat mir ein Bild davon geschickt, aber ohne Gesicht. Und dann wurde mir klar, dass das Foto die tote Maria Koponen zeigt und dass meine Tochter nicht wollte, dass ich das Gesicht sehe.«
»Verstehe«, sagt Jessica und bemüht sich, ruhig zu bleiben. Sie holt tief Luft und presst ihre zitternden Finger auf den Tisch. Dieser Anruf kann den Durchbruch bringen. Alle vier Frauen trugen exakt das gleiche Abendkleid. Gleiche Schuhe. Sogar ihr Nagellack hatte die gleiche Farbe. Jessica legt das Handy auf den Tisch und schaltet den Lautsprecher ein. »Erzählen Sie weiter.«
»Es kann ja reiner Zufall sein, dass Maria ein von mir entworfenes Kleid trug, aber …« Jessica glaubt ein Schniefen zu hören. »Aber als Maria Koponen vor ungefähr einem Monat kam, um es zu kaufen … Wir haben die Maße genommen und den Stoff ausgewählt …«
»Ja?«
»Sie hat nicht nur eins bestellt. Sondern fünf.«
Jessica spürt, wie eine kalte Welle sie erfasst.
»Fünf Abendkleider?«
»Fünf gleiche.«
Jessica weiß, dass die restlichen vier nicht in Kulosaari im Kleiderschrank hängen.
»Jedes in einer anderen Größe«, fügt Helle hinzu.
Wie bitte? Das kann nicht sein.
»Haben Sie die Größen notiert?« Jessica trommelt auf die Tischplatte.
»Ja, im Auftragsbuch. Alle Angaben. Maria hat mir insgesamt fünf Maße gegeben, nach denen die Abendkleider genäht werden sollten. Sie hat nicht gesagt, warum, aber ich nahm an, dass es um eine Hochzeit ging. Oder um irgendein anderes Fest, bei dem die Frauen gleich …«
»Maria Koponen hat diese Kleider also gekauft? Und im Laden bezahlt?«
»Ja.«
»Wie lange sind Sie heute noch im Geschäft?«, fragt Jessica mit einem Blick auf die Uhr. 22:27. Jemand muss sofort hinfahren. Wenn kein anderer Zeit hat, geht sie selbst hin. Ganz egal, was Erne dazu meint.
»Es wird wohl bis gegen Mitternacht dauern …«
Nun hört Jessica wieder ein unbestimmbares Geräusch am anderen Ende.
»Was in aller Welt will die bloß?«, schimpft Irma Helle.
»Was ist los?«, fragt Jessica wachsam.
»Dieselbe Frau steht wieder an der Tür.«
»Welche Frau?«
»Die vorhin reingekommen ist … Du lieber Himmel, sie könnte Maria Koponens Zwillingsschwester sein … Einen Moment«, sagt Helle. Jessica hört, wie das Handy auf den Tisch gelegt wird.
»He! Warten Sie!« Jessica steht auf. »Hallo? Irma?«
Irma Helle antwortet nicht. Jessica hört Schritte, ein Klopfen und kurz darauf das Klingeln der Glocke.
»Mach nicht auf«, flüstert Jessica und geht ans Fenster, die Hand an die Stirn gelegt. Sie hört die gedämpften Worte am anderen Ende. Tut mir leid, aber wir haben geschlossen. Morgen um neun dann wieder. Entschuldigung, haben Sie nicht zugehört? Wir haben geschlossen. Ich darf Sie bitten …
Dann bricht die Verbindung ab, und Jessica hört es dreimal kurz tuten.