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Im Treppenhaus ist es mucksmäuschenstill. Das Handy am Ohr, öffnet Jessica die Tür und bleibt einen Moment an der Tastatur der Alarmanlage stehen, nur um festzustellen, dass sie sie nicht eingeschaltet hat, als sie früher am Abend in ihre Einzimmerwohnung geeilt ist.
»Was ist los?« Jusufs Stimme klingt so wachsam wie am frühen Morgen. Zweifellos spürt er, wie nervös und gehetzt seine Kollegin ist.
»Ich hab gerade einen Anruf von einer Frau namens Irma Helle bekommen, sie ist in unmittelbarer Gefahr. Ich hab eine Streife hingeschickt, die müsste gleich dort sein.«
»Wer ist das?«
»Die Besitzerin eines Modegeschäfts. Sie hat die Abendkleider der Opfer genäht. Jedes einzelne.«
»Warum glaubst du, dass sie in Gefahr ist?«
»Eine Frau, die Maria Koponen ähnelt, hat gerade versucht, in den Laden zu kommen, während ich mit ihr telefonierte«, erklärt Jessica und geht zügig durch das Wohnzimmer in die Küche. Das Portemonnaie liegt exakt da, wo sie es zurückgelassen hat. Wieso auch nicht. Alles erscheint ihr verschwommen und unwirklich. Wieder ist ein Menschenleben in Gefahr.
»Maria Koponen …«, sagt Jusuf ungläubig. »Eine Frau?«
»Genau. Eine Frau. Maria Koponen hat die Abendkleider selbst gekauft. Was bedeutet das deiner Meinung nach?«
»Klingt wirklich seltsam.«
»Maria Koponen hat der Schneiderin die Kleidergrößen der Frauen gegeben, sie muss also jedes der Opfer persönlich gekannt haben. Oder zumindest hat sie deren genaue Maße gewusst.«
»Aber … Wir haben nach einer Verbindung zwischen den Opfern
gesucht. Und bisher nichts gefunden. Keine gemeinsamen Hobbys, keine Telefonate … Sie sind nicht mal auf Facebook befreundet. Und Laura Helminen hat ausgesagt, dass sie den anderen Opfern nie begegnet ist und nicht einmal ihre Namen kennt.«
»Trotzdem wusste Maria Koponen die Kleidergrößen der Frauen.«
»Das heißt noch nicht, dass sie die Frauen gekannt hat. Jemand kann ihr eine Liste gegeben haben.«
»Aber wer? Haben Maria und Roger Koponen zusammengearbeitet? War es so? Haben sie irgendwem geholfen, dieses Spektakel durchzuziehen?«
»Maria Koponen ist tot, Jessica. Ich glaube nicht, dass sie wissentlich zu ihrer eigenen Ermordung beigetragen hat.«
»Roger muss die Kleider weitergeleitet haben.«
Eine Weile bleibt es still.
»Wo bist du?«, fragt Jessica schließlich.
»Bin gerade Richtung Ullanlinna abgebogen.«
»Hol mich.«
»Was?«
»Hol mich ab. Ich komm mit.«
»Nein.«
»Doch.«
»Und Erne?«
»Der kann mich mal.«
»Nee, ich weiß nicht. Und wenn du wirklich die Zielscheibe bist? Wäre es nicht klüger, eine Weile aus der Schusslinie zu bleiben?«
»Ich hab das Gefühl, dass ich hier zu Hause erst recht die Zielscheibe bin.«
»Nimm dir ein Taxi. Sonst gibt Erne mir die Schuld …«
»Verdammt nochmal, Jusuf, du fährst deine Schrottkarre jetzt hier vor mein Haus!«
»Du bist wirklich eine Hexe, Jessica.«
»Wie lange brauchst du?«
»Zehn Minuten.«
»Ich komm runter.«
»Warte mal«, sagt Jusuf, und Jessica hört, wie er den Polizeifunk lauter stellt. Eine deutlich artikulierte Durchsage, von der Jessica
nahezu jedes Wort mitbekommt.
… Korkeavuorenkatu, Bekleidungsgeschäft. Durch das Schaufenster ist ein regloser Mensch auf dem Fußboden zu sehen. Reagiert nicht auf Klopfen. Wir brechen die Tür auf. Notarzt ist alarmiert.