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Die Stoßdämpfer des Volkswagens krachen laut, als Jusuf direkt in ein Loch fährt, das der Frost in den Asphalt gerissen hat. Jessica hat den Blick auf den Rückspiegel und auf den Kleintransporter hinter ihnen geheftet.
»Scheiße, die Stoßdämpfer sind hin«, flucht Jusuf.
»Mach dir nichts draus. Unsere Babysitter sind ins selbe Schlagloch gefahren.«
Jusuf biegt auf den Hof der Töölö-Klinik ein und parkt direkt vor dem Eingang. Eine Krankenschwester, die rauchend auf dem Hof steht, sieht ihn missbilligend an.
»Polizei«, sagt Jusuf leise. Gleich darauf hält der Transporter direkt hinter seinem Auto.
»Im Einsatz?«, fragt die Krankenschwester und bläst mit sauertöpfischer Miene den Rauch aus. »Wenn nicht, können Sie da parken, wo es alle anderen auch tun.«
Jusuf sieht die Frau an, lacht auf und schüttelt den Kopf.
»Woher kommt diese allgemeine Negativität …«
»Daher, dass die Welt beschissen ist«, brummt Jessica. Durch zwei Schiebetüren gelangen sie in die Eingangshalle. Die Uniformierten folgen ihnen mit zehn Meter Abstand. Jessica und Jusuf durchqueren die Halle, auf deren Fußboden Linien in verschiedenen Farben den Besuchern den Weg weisen.
»Hör mal, Jusuf«, sagt Jessica und drückt auf den Aufzugknopf. »Laura Helminen wirkt wie eine zutiefst erschütterte junge Frau. So erschüttert, dass es bisher fast unmöglich war, sie zu befragen.«
»Ja?«
Jessica starrt auf ihre Schuhspitzen und wartet, bis die Aufzugtüren sich öffnen. Die Kabine ist leer, und sie betreten sie zu zweit. Es kommt ihnen seltsam vor, dass die zu ihrem Schutz
ausgesandten Streifenpolizisten in der Eingangshalle bleiben, aber Erne hat den Uniformierten verboten, Laura Helminens Krankenzimmer zu betreten.
»Irma Helle wurde vermutlich von einer Frau getötet«, fährt Jessica fort, als sich die Türen schließen. »Die vom Aussehen und von der Größe her den anderen Opfern gleicht, einschließlich Laura Helminen.«
»Laura Helminen war die ganze Zeit hier in der Klinik.«
»Stimmt, aber das schließt nicht aus, dass der Täter eine Frau sein könnte.«
Jusuf brummt zustimmend und nickt.
»Genau. Wir haben angenommen, dass die Frauen nur Opfer sind«, sagt er. Jessica nickt ebenfalls und betrachtet die eingerissene Nagelhaut an ihrem rechten Zeigefinger. Im selben Moment beginnt etwas in Jusufs Satz sie zu irritieren.
»Warte mal. Was hast du gesagt?« Sie blickt zu Jusuf auf.
»Das hast du doch gemeint, oder? Dass wir angenommen haben, die Täter wären Männer? Dass irgendwelche sadistischen Männer …«
»Ja. Aber wie du es gerade ausgedrückt hast – offenbar unbewusst –, ist genial«, erklärt Jessica, während der Lift ohne Zwischenstopp in den fünften Stock fährt.
»Was hab ich denn gesagt?«
»Dass die Frauen nur
Opfer sind.«
»Nur
Opfer. Ich verstehe nicht …«
»Wir dachten, die Mörder wären Männer, die ihre weiblichen Opfer für irgendwas bestrafen wollen. Aber wenn es Frauen sind?«
Der Aufzug piept, und eine mechanische Frauenstimme nennt die Nummer der Etage. Die Stimme erinnert Jessica an das YouTube-Video mit den lateinischen Worten.
»Dass Maria Koponen die Kleider selbst bestellt hat …«
»Aus irgendeinem Grund haben wir sofort angenommen, dass Roger Koponen seine Frau manipuliert hat. Ist ja auch eine natürliche Erklärung, denn wer würde seine eigene Ermordung planen.«
Die Aufzugtüren öffnen sich. Auf dem Flur ist es überraschend ruhig.
»Warte mal«, sagt Jusuf leise und fasst Jessica vorsichtig an der
Jacke. »Meinst du etwa, dass Laura Helminen nicht nur Opfer, sondern auch Täterin war?«
Jessica starrt Jusuf wortlos an. Dann schüttelt sie den Kopf und lacht freudlos auf.
»Tatsächlich, genau das meine ich. Bin ich verrückt?«
»Ja. Du warst immer schon verdreht. Aber du kannst trotzdem recht haben«, antwortet Jusuf, als sich die Aufzugtüren hinter ihnen schließen. Jessica seufzt und mustert den Flur. Die Luke des Empfangsschalters ist geschlossen, aus dem kleinen Kabuff fällt helles Licht. Am Ende des Flurs, vor Laura Helminens Krankenzimmer, sitzt Teo, der Wächter.
»Okay, Jessica. Nehmen wir mal an, dass Helminen mehr weiß, als sie uns erzählt. Wie sollten wir die Sache deiner Meinung nach anpacken, damit nicht alles so oder so danebengeht?«
»Die Idee, dass jemand sich entführen, betäuben und im eisigen Wasser beinahe ertränken lässt, ist weit hergeholt. So weit, dass niemand glaubt, dass wir diese Alternative überhaupt in Betracht ziehen. Wir können also ruhig einen kleinen Test machen«, sagt Jessica und sieht Jusuf bedeutungsvoll an.