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Nina parkt den Wagen vor einem großen Einfamilienhaus, das auf den ersten Blick dem Haus der Koponens in Kulosaari ähnelt. Sie war nie dort, weder sie noch Mikael haben während der bisherigen Ermittlungen auch nur einen einzigen der zahlreichen Tatorte besucht, doch sie hat Hunderte, wenn nicht Tausende Fotos gesehen, die andere aufs Präsidium gebracht oder gemailt haben. Dank dieser Bilder kennt sie nicht nur die Villen der Koponens und von Bunsdorfs und das Modegeschäft in Ullanlinna, sondern auch so manche Ufer, Wälder und Felder. Orte, die an sich nichts gemeinsam haben, die aber durch die vielleicht entsetzlichste Mordserie in der Kriminalgeschichte Finnlands verbunden sind.
»Was glaubst du, wie sind die Zähne von Mister X in unserem Abendessen gelandet?«
»Das weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass dieses Miststück«, Mikael nickt zu dem Haus hin, »sie dem Opfer letzte Nacht aus dem Mund gerissen hat.«
Nina richtet das Lüftungsgebläse auf die Windschutzscheibe, die schon wieder beschlägt.
»Kommst du mit?«, fragt Mikael und vergewissert sich, dass die Klettverschlüsse der kugelsicheren Weste ordentlich befestigt sind. Bei der Festnahme werden vermutlich keine Gewaltmittel notwendig sein, aber sie wissen, dass man keine unnötigen Risiken eingehen darf.
»Geh du mit den Jungs«, antwortet Nina, ohne den Blick von dem Haus abzuwenden. Die Blaulichter, die über den weißen Verputz huschen, erinnern an ein modernes Lichtkunstwerk. Fast alle Fenster sind hell erleuchtet.
»Ist es der da?«, fragt sie und zeigt auf ein wandhohes Fenster im ersten Stock. Der Mann, der dort aufgetaucht ist, trägt eine weiße
Trainingshose und einen schwarzen Pullover.
»Verdammt und zugenäht«, sagt Mikael und wirft ein Kaugummi ein. »Da steht unser Torsten.«
Torsten Karlstedt hebt grüßend die Hand.
»Was soll das, zum Teufel?«
Mikael blickt grinsend auf die Uhr. Es ist Mitternacht. Sein Handy klingelt, er antwortet mit einem einzigen Wort und legt auf: Die Gruppe, die vor Kai Lehtinens Haus in Vantaa angerückt ist, ist ebenfalls einsatzbereit.
»Das kannst du ihn bald selber fragen«, sagt er und öffnet die Tür. Nina spürt den eisigen Luftzug im Gesicht, dann wird die Tür zugeschlagen, und Mikael schließt sich vier Männern im Overall an. Nina beobachtet die Männer, die den kleinen Vorgarten durchqueren. Als sie die Haustür erreicht haben, geht einer von ihnen zur Rückseite des Hauses. Nina merkt, dass ihre Beine unruhig zucken. Es ist schwer vorstellbar, dass Karlstedt zu fliehen versucht. Aber nahezu alles andere ist möglich. Handelt es sich um eine Falle? Wird der Mann sein Haus und sich selbst in die Luft jagen, nur um noch mehr Chaos zu erzeugen?
Torsten Karlstedt verschwindet vom Fenster, bald darauf öffnet sich die Haustür. Er steht auf der Schwelle und verhält sich offenbar friedlich. Nina sieht, wie er kurz zurücktritt und dann in einer roten Daunenjacke aus dem Haus kommt. Mit dem Blick folgt sie der Gruppe, die ruhig auf den Transporter zugeht. Als Karlstedt in den Wagen verfrachtet wird, schließt sie die Augen und stößt einen langen, erleichterten Seufzer aus.
Bald geht die Tür, und Mikael setzt sich auf den Beifahrersitz. Nina hat die Augen immer noch geschlossen, doch die Geräusche beim Kaugummikauen würde sie selbst im Schlaf erkennen.
»Pfui Teufel«, sagt Mikael und öffnet seine Jacke. Nina sieht ihn fragend an. »Dem Kerl ist schon am Gesicht abzulesen, dass er schuldig ist.«
»Steht es ihm auf die Stirn geschrieben?«
»Ja. Groß und deutlich. Und kein ehrlicher Mann heißt verdammt nochmal Torsten.«
Nina lächelt und ergreift die Hand, die Mikael ihr hinhält.
»Hast du dir Sorgen gemacht?«
»Glaub bloß nicht, dass ich dich jetzt für einen Actionhelden halte. Ihr hättet genauso gut mit Puppen spielen können. Genauso gefährlich.«
»Quatsch! Hast du nicht hingeguckt? Die Situation war extrem gefährlich. Er hat versucht, mich mit Knoblauch zu töten.«
»War die Festnahme in Vantaa auch so dramatisch?« Lachend lässt Nina den Motor an.
»Offenbar. Lehtinen hat keine Gegenwehr geleistet.«
»Übrigens, du Blödmann, mit Knoblauch vertreibt man Vampire, keine Hexen«, sagt Nina, als die beiden Streifenwagen vor ihnen losfahren.
»Sorry. Ich hab Harry Potter nicht gelesen.«