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Wach auf, Jessica.
Mama ist heute früh so schön wie lange nicht mehr.
Was ist?
Wir machen einen Ausflug.
Mama streicht Jessica über die Haare. Die Morgensonne strömt durch die offene Jalousie. Jessica hebt den Kopf vom Kissen. Ihr kleiner Bruder ist schon aufgestanden und reibt sich schläfrig die Augen. Papa steht an der Tür und sieht besorgt aus. Vielleicht wütend. Diese Miene hat Jessica in letzter Zeit oft auf seinem Gesicht gesehen.
Heute ist Samstag.
Mama spricht wieder. Jessica weiß nicht recht, was sie meint. Am Samstagmorgen stehen normalerweise keine Ausflüge auf dem Programm. Höchstens spielen sie mit Papa am Pool. In letzter Zeit war Mama öfter bei der Arbeit als zu Hause.
Hopp, hopp, zieh dich an.
Mama streicht ihr immer noch über die Haare und streift dabei ihr Ohrläppchen. Die Berührung löst ein leises Beben aus, das bis in den Nacken läuft. Mama lächelt, aber ihre Miene ist irgendwie seltsam. Mama ist Schauspielerin, Jessica hat sie oft im Fernsehen gesehen und gelernt, dass es Mamas Beruf ist, andere Menschen zu spielen. Manchmal im Theater, dann wieder im Fernsehen und in Filmen. Mama kann das so gut, dass Jessica sie auf dem Bildschirm gar nicht erkennt. Sie hat einmal gefragt, wie Mama es schafft, die Traurige zu spielen. Man muss an etwas Trauriges denken, hat Mama geantwortet.
Mama steht vom Bettrand auf und verlässt das Zimmer. Sie geht an Papa vorbei, doch die beiden schauen sich nicht an. Es ist, als wären sie unsichtbar füreinander. Jetzt sieht Jessica einen Koffer
neben der Tür. Papa nähert sich mit verschränkten Armen und setzt sich.
Jessi und Toffe. Alles wird wieder gut.
Papas Lächeln ist traurig, aber viel wirklicher als Mamas. Als wäre er der bessere Schauspieler.
Komm du auch her.
Jessicas Bruder schlüpft unbeholfen in sein schwarzes Ghostbusters-Sweatshirt und stapft dann ans Bett.
Papa betrachtet sie beide abwechselnd und zieht sie an sich. Schnuppert ihren Geruch.
Warum weinst du?
Eine Weile schnieft Papa nur, doch dann wischt er sich die Nase an seinem schwarzen Pullover ab.
Papa muss eine Weile verreisen.
Warum?
Das haben Mama und ich so abgemacht.
Jessica spürt einen gewaltigen Druck in der Brust und packt Papa am Arm. Sie weiß, dass nicht alles in Ordnung ist. Das riesige Haus ist schon seit Langem zu still. In der letzten Nacht haben Toffe und sie lange wachgelegen und auf das Gebrüll gelauscht, das durch die Wände drang, sie haben gehört, wie Sachen auf den Boden geworfen wurden, und Jessica hat gedacht, dass die Stille endlich vorbei ist, dass endlich etwas passiert. Aber als Papa jetzt erzählt, dass er weggeht, schließt sie die Augen und wünscht sich, das Haus wäre immer noch still. Egal was, wenn nur alles so weiterginge wie bisher.
Kommt jetzt. Wir essen am Flughafen eine Kleinigkeit.
Die Erinnerung einer Sechsjährigen ist selektiv. Im Nachhinein ist es Jessica unmöglich, einzuschätzen, was in den nächsten Minuten geschah, ob die Gespräche im Auto und die Worte, die an ihre Ohren drangen, in Wahrheit nur Produkte ihrer Fantasie waren, mit denen sie versuchte, die Erinnerungslücken zu schließen.
Aber an etwas erinnert sie sich lebhaft. An die Finger ihres Bruders, die ihre eigenen umklammern. An die dunklen Augen ihrer Mutter im Rückspiegel.