86
Sieh in den Spiegel . Jessica stützt sich auf das Waschbecken und betrachtet ihr Spiegelbild im vergoldeten Rahmen. Unter den nassen Haarsträhnen, die an der Stirn kleben, sind ihre dunklen Augen kaum zu sehen. Das warme Wasser läuft im Nacken zum Rücken herunter und wird schließlich von dem Handtuch aufgehalten, das sie umgewickelt hat.
Sie tritt an das offene Fenster. An den Kanälen in Murano ist es still: Im Oktober gibt es erheblich weniger Touristen als im Sommer, obwohl das Wetter gerade im Herbst angenehmer ist. In Helsinki hat sich das Laub vermutlich schon bunt gefärbt, und die Keilformationen der Zugvögel durchschneiden den Himmel. Heute sind genau vier Monate vergangen, seit Jessica in Venedig angekommen ist. Jetzt erscheinen ihr das sommerliche San Michele und ihre Pläne, durch ganz Europa zu reisen, ebenso weit weg wie Los Angeles, doch andererseits ist die Zeit unglaublich schnell vergangen.
Ein vernebelter und unwirklich erscheinender Abschnitt liegt zwischen heute und jenem regnerischen frühen Morgen, an dem Jessica in Colombanos Wohnung ihren Koffer packte, mit großen Blutergüssen an den Armen und im Nacken, mit blutendem Unterleib, und an der Tür von dem Mann angehalten wurde, der ihr seine raue Zunge tief in den Mund schob. An jenem Morgen hoffte sie von ganzem Herzen, dass dieser eine Kuss ihm genügen würde. Dass er irgendwann aufhörte und sie endlich frei wäre zu gehen.
Gute Heimreise, Jessica. Denk daran, was ich gesagt habe. Deine Geschichte wird keinen interessieren, also solltest du sie lieber gar nicht erst erzählen.
Eine Umarmung. Ihre Wange an der tätowierten Brust. Der von der Haut aufsteigende Gestank. Die Gesten des Mannes sind matt und zärtlich, als läge eine schlaflose, aber von Liebe erfüllte Nacht hinter ihnen. Kein Anzeichen von Unsicherheit oder Reue. Es hat keine Vergewaltigung gegeben. Sie haben sich nach einer kurzen Beziehung getrennt. In vollem Einverständnis, ohne Drama. So ist das Leben manchmal.
Schade, dass es so gekommen ist.
Ein strahlendes Lächeln. Fingerknöchel auf der Wange.
Das Letzte, was Jessica sieht, bevor die Tür zufällt, ist die Geige, die samt Bogen auf dem Tisch im Flur liegt. Dann das schmale Treppenhaus, dessen Tapeten nun zum ersten Mal hässlich aussehen, wie ein verrosteter Brunnendeckel.
Kurz darauf bleibt Jessica mit ihrem Koffer in einer Seitengasse stehen, an einem schmalen Kanal. Sie ist zu müde, um weiterzugehen, zu erschüttert, um zu weinen. Sie setzt sich auf die Kante, lässt ihre Beine über dem Wasser baumeln und betrachtet die am Kanalufer vertäuten Boote. Das dominierende Gefühl ist bodenlose Scham. Dazu kommen totale Einsamkeit und Ziellosigkeit. Nach allem, was Jessica in den letzten Wochen erlebt hat, erscheint es ihr unmöglich, sich in den Zug zu setzen und dann nach Helsinki zu fliegen. Sie hat keine Kraft, an die Zukunft zu denken, daran, was sie einmal werden will. Sie will ihre Tante Tina nicht sehen, die verzweifelt versucht, eine Kluft zu überbrücken, die sie vor Zeiten selbst aufgerissen hat. Jessica will nur sein. Hier und jetzt.
Aus dem Hier und Jetzt sind unversehens drei Monate geworden. Das herbstliche Meer riecht anders. Frisch und ehrlich. Jessica ist in das Hotel zurückgekehrt, in dem sie sich bei ihrer Ankunft in Venedig einquartiert hatte. Sie ist ein idealer Gast: Sie isst zwei bis drei Mal täglich im Hotel, verteilt großzügig Trinkgelder und begleicht wöchentlich ihre Rechnung. Schon Ende Juli hat sie ihr Zimmer gegen eine Juniorsuite eingetauscht. Nur gelegentlich hat sie das Hotel verlassen, ist in der abendlichen Dunkelheit ein paar hundert Meter spazieren gegangen und dann zurückgekehrt. Sie will nicht gesehen werden, sie will, dass die Dunkelheit ihre Hässlichkeit verhüllt, ihre ekelhafte Haut und ihre fettigen Haare.
Einige Male hatte sie das schauderhafte Gefühl, verfolgt zu werden. Schritte hinter ihr, die stoppen, wenn sie stehen bleibt. Ein davoneilender Schatten, wenn sie über die Schulter blickt.
Im Hotel fühlt sie sich sicher. Dort stellt niemand dumme Fragen, obwohl man sie höchstwahrscheinlich für eine Närrin hält, die vom Geld irgendeines Verwandten lebt und einfach beschlossen hat, nicht nach Hause zurückzukehren.
Jessica verbringt ihre Tage damit, auf dem breiten Bett zu liegen und fernzusehen. An manchen Tagen ist der Nervenschmerz so schlimm, dass sie sich überhaupt nicht bewegen kann. Dann krampft sie ihre Finger um das Laken und schließt die Augen: Sie versucht sich das Freiheitsgefühl in Erinnerung zu rufen, das sie im Vaporetto erfasst hat, an dem Tag, an dem sie Colombano zum ersten Mal begegnet ist. So schlimm die Schmerzen auch sind, Jessica schreit nie. Diese Genugtuung gönnt sie der Welt nicht. Der Schmerz folgt oft auf irgendeinen beklemmenden Gedanken, auf eine blitzartige Erinnerung an ihre Mutter, ihren Vater, ihren Bruder, Colombano. Die Schmerzattacken sind wie Salz in den Wunden, die ihr Unterbewusstsein aufgerissen hat. Sie kommen immer zusammen. Die Beklemmung und der Schmerz. Aber nicht immer in dieser Reihenfolge.
Jessica hat zugenommen, doch das erscheint ihr völlig bedeutungslos. Wenn sie das Zimmer verlässt, zieht sie Shorts und Hoodie an und bindet die Haare zum Pferdeschwanz. Sie ist wie ein Schatten ihres früheren Ichs, das immer darauf achtete, schön und gepflegt zu sein, wenn sie ausging. Sie ist ein langsam sterbendes Kuriosum, in einem fremden Land, in einer Stadt, die prachtvoll und schön war, aber abstoßend hässlich geworden ist. Sie ist allein und gerade deshalb bereit, aufzugeben. Für wie idiotisch würden Vater und Mutter sie halten, wenn sie noch am Leben wären? Würde Toffe noch ihre Hand umklammern? Würde er sie überhaupt ergreifen?
Irgendwo spielt ein Straßenmusiker auf der Geige. Vivaldis Vier Jahreszeiten . L’inverno. Der Winter hält tatsächlich Einzug.
Jessica betrachtet das Tablett mit dem Essen, das sie gestern Abend beim Zimmerservice bestellt hat, ein halb aufgegessenes Entrecôte und schlaff gewordene Pommes. Ihre Finger tasten nach dem gezackten Steakmesser, nach seinem Holzgriff. Aus ihren nassen Haaren tropft Wasser auf den Teppichboden. Die Musik dort draußen ist schön, ihre Melodie so zeitlos und genial.
Ihr Griff lockert sich, und das Messer fällt neben ihrem Fuß auf den Boden. Eine Weile mustert Jessica es, als hätte es ihr Vertrauen enttäuscht. Im Hintergrund spielt die Geige, immer höher. Immer schneller.
Jessica schließt das Fenster und betrachtet ihre zitternden Hände. Vielleicht ist es höchste Zeit, etwas zu tun. Ins Konzert zu gehen. Die Aufführung mit neuen Augen zu sehen.