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Die Neonröhren surren so laut, dass es jedem, der hier vernommen wird, auffallen muss. Nina hat oft überlegt, ob die Lampen absichtlich nicht repariert werden, ob das Geräusch eine von Psychologen entwickelte Methode ist, die geistige Widerstandskraft zu brechen. Torsten Karlstedt achtet jedoch nicht darauf. Tatsächlich erweckt er den Eindruck, als säße er nicht zum ersten Mal in diesem Raum: Er schenkt der unfreundlichen Umgebung keine Aufmerksamkeit, sondern blickt Nina ruhig und unverwandt an. Er ist um die fünfzig, für die Jahreszeit auffällig gebräunt und für sein Alter gut in Form. Sein dichtes Haar ist goldbraun.
Nina schaltet das Aufnahmegerät ein.
»Wo waren Sie gestern Abend?«, fragt sie. Die Vernehmung hat erst einige Minuten gedauert, aber Nina kommt es vor, als hätte sie schon eine Ewigkeit in diesem Raum verbracht.
»In Savonlinna«, antwortet Karlstedt und hustet in die hohle Hand.
»Warum?«
»Um Roger Koponens Auftritt zu erleben. Das wissen Sie doch.«
»Mit wem?«
»Mit Kai. Kai Lehtinen. Und auch das wissen Sie.«
»Sie scheinen zu wissen, was wir wissen.«
»Ich nicht. Aber Sie wissen es. Sonst wäre ich wohl nicht hier.«
»Warum sind Sie Ihrer Ansicht nach hier?«
»Läuft das tatsächlich so ab? Was für ein verdammtes Spiel soll das sein?«
Nina wirft einen Blick auf das Aufnahmegerät, dann auf den schwarzen Pullover des Mannes, auf dessen Brust das Logo einer Pferdesportorganisation prangt.
»Sie sind mit Ihrem Porsche Cayenne nach Savonlinna gefahren.«
»Ja. Ist das ein Verbrechen? Ein zu provokantes Auto?«
Nina ringt sich ein müdes Lächeln ab.
»Wissen Sie was? Sie haben recht, Torsten. Das alles wissen wir schon. Jetzt darf ich Ihnen wohl eine Frage stellen, auf die wir die Antwort nicht kennen.«
»Nur zu.«
»Sie sind in Savonlinna gar nicht aus Ihrem Wagen ausgestiegen. Wieso nicht?«
»Keine Lust.«
»Ihr Freund Kai Lehtinen ist also allein hineingegangen, um Roger Koponen zu hören. Und Sie haben über eine Stunde im Auto gesessen. Nur weil Sie doch keine Lust hatten.«
»Genau.«
»Waren noch andere im Wagen?«
Torsten Karlstedt lächelt geheimnisvoll.
»Nein.«
»Warum haben Sie Ihre Handys zu Hause gelassen?«
»Ab und zu tut es gut, sich eine Auszeit zu gönnen.«
»Zweifellos«, sagt Nina und verschränkt die Arme vor der Brust. Sie hat Hunderte von Verdächtigen vernommen, einige waren beredt und aalglatt, andere dumm und leicht zu durchschauen. Torsten Karlstedt gehört zu keiner der beiden Kategorien. Allmählich glaubt Nina, dass Erne recht hatte und sie die beiden Männer zu früh zur Vernehmung geholt haben.
Torsten Karlstedt blickt auf seine Stahluhr, öffnet den Verschluss und legt die Uhr vor sich auf den Tisch. Seine Bewegungen sind ruhig und präzise.
»Nina Ruska«, sagt er dann, nachdem er eine Weile den Dienstausweis betrachtet hat, der um Ninas Hals hängt.
»Im Dienst der Gesellschaft«, gibt Nina trocken zurück.
»Ich verstehe durchaus, dass unsere Reise in die Provinz merkwürdig erscheint. Zumal Roger Koponen in Juva getötet wurde.«
Nina sieht den Mann prüfend an. Torsten Karlstedt weiß, dass das, was er gerade gesagt hat, nicht stimmt. Und noch wichtiger: Er muss wissen, dass sich auch die Polizei darüber im Klaren ist.
»Aber wir haben nichts mit seinem Tod zu tun«, fährt Karlstedt fort. Absurderweise spricht er die Wahrheit. Sie haben nichts mit Koponens Tod zu tun, denn Koponen lebt. Mit Sanna Porkka und dem immer noch nicht identifizierten Mann verhält es sich anders.
»Und mit dem Tod der Polizistin?«
»Ich habe nichts gegen Polizistinnen, Nina Ruska.«
Nina übergeht die Antwort, feuchtet die Fingerspitze an und blättert in ihrem Notizbuch.
»Okkulte Lehren«, sagt sie.
»Ein hervorragendes Werk, wenn ich mich selbst loben darf.« Karlstedt lächelt und schlägt die Beine übereinander.
»Sie haben sich immer für Magie interessiert.«
»Für Magie? O nein, zum Okkultismus gehört viel mehr als nur Magie. Es handelt sich um eine faszinierende Welt der Geheimwissenschaften, in der Zauberei nur eine kleine Rolle spielt. Ich vermute, dass Sie das Buch nicht gelesen haben.«
»Nein, habe ich nicht. Aber ich weiß, dass es auf Kritik gestoßen ist. Sie haben sich nicht damit begnügt, das breite Spektrum der Geheimwissenschaften darzustellen, sondern einen recht beleidigenden Text verfasst, in dem Sie die teils fragwürdige Geschichte des Phänomens verteidigen. Unter anderem schreiben Sie, das Dritte Reich wäre nicht so schnell zusammengebrochen, wenn die Nazis es gewagt hätten, esoterischen Lehren zu vertrauen. Moment, ich zitiere: Innenminister Heinrich Himmler, eine der einflussreichsten Persönlichkeiten im nationalsozialistischen Deutschland, hätte seine okkultistischen Forschungen unbeirrt fortsetzen sollen
»Fragen Sie mich jetzt, ob ich ein Nazi bin?«
»Ihr eventueller Antisemitismus interessiert uns nicht im Geringsten, solange er nichts mit einem Kapitalverbrechen zu tun hat. Derartige Details unterstützen allerdings unsere Annahme, dass Sie immer auf Aufmerksamkeit aus waren. Genau wie jetzt, hier an diesem Tisch, handeln Sie, um zu provozieren. Um in Erinnerung zu bleiben.«
»Oho. Hat Nina Ruska an der Fachhochschule ein paar Psychologiekurse absolviert?«, fragt Karlstedt und faltet die Hände auf dem Tisch. Nina lächelt schief, sieht ihm aber nicht in die Augen. Hast du selbst an der Handelshochschule einen Kurs für Vollidioten belegt?
»Haben Sie Roger oder Maria Koponen persönlich gekannt?«
»Ich bin ein großer Fan von Roger Koponens Trilogie.«
»Beantworten Sie bitte meine Frage.«
»Ich habe sie nicht gekannt.«
Im selben Moment wird die Tür zum Vernehmungsraum geöffnet, und Mikael steckt den Kopf herein.
»Kommst du mal kurz, Nina?«
Nina klopft mit dem Stift auf den Tisch und starrt den ihr gegenübersitzenden Karlstedt eine Weile an. Dann steht sie auf. Langsam, denn sie will nicht den Eindruck erwecken, dass sie auf jeden Pfiff losrennt wie ein Hund. Auf den Pfiff eines Mannes.
»Warten Sie einen Moment, Torsten?«
»Selbstverständlich, Nina Ruska«, antwortet Karlstedt ruhig. Dass der Mistkerl ihren vollen Namen verwendet, bereitet Nina Unbehagen. Das ist wohl seine Absicht.
»Was gibt’s?«, fragt Nina, sobald die Tür zum Vernehmungsraum zugefallen ist. Irgendetwas an Mikael ist anders. Erst nach ein paar Sekunden merkt sie, dass er kein Kaugummi kaut.
»Hat sich irgendwas Interessantes ergeben?« Er stemmt die Hände in die Seiten.
»Absolut nichts. Vielleicht hatte Erne doch recht.«
»Verdammt.«
»Und bei Lehtinen?« Nina blickt über Mikaels Schulter zu der geschlossenen Tür, hinter der der zweite Befragte sitzt. Mikael schüttelt den Kopf und fuchtelt mit den Armen.
»Dasselbe. Völlig kaltschnäuzig. Seltsame Andeutungen zwischen den Zeilen. Gibt dies und das zu verstehen, steht aber nicht dazu.«
»Machen wir weiter, oder gibt es sonst noch was?«
»Ja, ich hab noch was«, antwortet Mikael rasch und winkt sie von den Türen weg. »Wang von der Technik hat angerufen. Die Anästhesiemittel, mit denen die Opfer betäubt wurden, Thiopental und Pancroni… Na verdammt, dieses andere, du weißt schon. Und das Chloroform und sogar die Kanülen und Infusionsflaschen … Ein privates Ärztezentrum in Helsinki hat auf unsere Anfrage reagiert. Deren Lagerinventar stimmt hinten und vorne nicht.«
Nina wird hellhörig. »Weiß man, wer Zugang zu den Medikamenten und dem Zubehör hat?«
»Es gibt nur sechzehn Mitarbeiter. Der Geschäftsführer möchte uns möglichst bald treffen und die Sache klären. Vermutlich will er die Rufschädigung minimieren, die unausweichlich ist, wenn die Medien davon erfahren.«
»Er will uns treffen? Mitten in der Nacht?«
»Ja. Er ist noch dort.«
»Dann sollten wir gleich hinfahren.«
»Aber wir haben hier ja noch mit den Vernehmungen zu tun …«
»Wie heißt das Ärztezentrum?«
»Bättre Morgondag . Am Bulevardi.«
»Besseres Morgen? Nie gehört …«
»Der Laden ist schon über fünfzig Jahre alt. Klingt nach so einem Achtsamkeits-Kram.«
»Am besten erledige ich das, Micke. Kannst du die beiden Verrückten im Auge behalten, wenn ich mal kurz zum Bulevardi fahre?«
»Na klar. Ich hole Rasse dazu, wenn ich einen bad cop brauche«, sagt Mikael lächelnd.
»Gut. Ich hab das Gefühl, dass wir den Tätern heute Nacht auf die Spur kommen.«