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Der Mann, der das Krankenzimmer bewacht, öffnet die Tür, und Jusuf tritt ein, ein iPad unter dem Arm. Laura Helminen ist wach, der Fernseher läuft, und sie tippt auf ihrem Smartphone herum.
»Hallo, Laura«, sagt Jusuf, als sich die Tür hinter ihm schließt.
»Nicht schon wieder«, murrt Helminen verdrossen. »Ich hab doch schon alles erzählt, woran ich mich erinnere.«
»Ich würde dir gern noch ein paar Fotos zeigen.«
»Ich bin ziemlich müde …«
»Es dauert nicht lange, Laura«, sagt Jusuf und lächelt mitfühlend. Er schiebt einen Stuhl an das Bett.
»Wenn du dir noch diese Bilder angucken könntest«, fährt er fort und dreht den Bildschirm zu der im Bett liegenden Frau. »Bist du dir ganz sicher, dass du keine dieser Frauen kennst?«
»Die haben wir doch schon durchgesehen …«
»Es kommt gar nicht selten vor, dass einem nachträglich noch etwas einfällt.«
Laura Helminen betrachtet die Fotos und schüttelt den Kopf.
»Nein.«
»Hoppla, na sowas«, sagt Jusuf zerstreut. »Da ist ja ein falsches Bild dazwischengeraten.«
Laura Helminen sieht ihn ungläubig an.
»Wessen Bild?«
»Von meiner Kollegin. Von der Hauptmeisterin, die früher am Tag hier war. Die dich aus dem eisigen Meer gerettet hat.« Jusuf schüttelt den Kopf.
Laura Helminens Gesicht ist nun todernst.
»Du hast dich erschreckt, als du sie hier gesehen hast, erinnerst du dich?«
»Wie gesagt, ich bin sehr müde.«
»Bestimmt. Es war ein harter Tag für alle, ganz besonders für dich. Aber bei der Polizei nehmen wir alle Verdachtsmomente ernst. Weil du heute so heftig auf das Gesicht meiner Kollegin reagiert hast, wurde sie aus dem Ermittlungsteam abgezogen«, erklärt Jusuf und gähnt leise.
»Was?«
»Ein anderer tritt an ihre Stelle.«
»Aber …«
»Aber was?«
»Du hast ja gemerkt, dass ich furchtbar müde bin. Ich hab sie ja gerade eben nicht erkannt.«
»Mach dir deshalb keine Sorgen. Der Beschluss ist schon gefasst«, erklärt Jusuf und steht auf, um sich zu verabschieden.
»Warte«, sagt Laura Helminen bestürzt. »Sie muss weitermachen.«
»Wie meinst du das?«
»Ich nehme alles zurück. Ich habe ihr Bild nicht gesehen.«
»Was soll das heißen?«
»Ich war gar nicht in dem Keller«, stammelt Laura Helminen. Ihr laufen plötzlich Tränen über das Gesicht. Jusuf holt sein Handy aus der Jackentasche. »Hast du das gehört, Jessica?«
Die Tür geht auf, und Jessica kommt herein.
»Versuch diesmal nicht zu schreien«, sagt sie und schließt die Tür. Laura Helminens Blick wandert zwischen Jessica und Jusuf hin und her.
»Erklär uns das, Laura«, fordert Jessica, als sie neben dem Bett steht. »Wieso warst du nicht in dem Keller? Du hast ziemlich genau beschrieben, was du dort gesehen hast. Unter anderem ein Gemälde, das mich darstellt.«
Laura Helminen blickt sich nervös um und will nach dem Alarmknopf greifen, der am Bettrand hängt, doch Jessica zieht ihn weg.
»Nun red schon, oder du kriegst echte Schwierigkeiten.«
»Die bringen meine Familie um.«
»Wer?«
»Ich weiß nicht. Die haben mir klare Anweisungen gegeben. Ich sollte eine Geschichte erfinden.«
»Warum hast du nicht einfach die Wahrheit gesagt, Laura? Die erfahren nicht, was du uns erzählst. Niemand hört uns.«
»Das stimmt nicht!«, schnieft Laura.
»Wieso nicht?«
»Weil in deiner Nähe jemand ist, der alles weiß.«
»Wie bitte?«, sagt Jessica und wirft einen Blick auf Jusuf, der genauso perplex wirkt. »In meiner Nähe? Wer? Bei der Polizei?«
»Ich weiß es nicht. Ich schwöre, dass ich es nicht weiß.«
»Warum ist es dir so wichtig, dass ich nicht suspendiert werde?«
»Die haben gesagt, dass du diejenige sein musst.«
»Diejenige?«
»Die den Fall aufklärt.«
Jessica fegt das Tablett vom Nachttisch auf den Boden. Dann richtet sie den Zeigefinger auf Laura Helminen. »Jetzt erzählst du uns die ganze Geschichte. Worüber hast du noch gelogen?«
»Nur über den Keller. Weil sie es mir befohlen haben! Ich erinnere mich nur, dass ich aus dem Haus gegangen bin … Und dann bin ich an einem unbekannten Ort aufgewacht und habe von einem maskierten Mann Befehle bekommen. Er hat mir erklärt, dass sie mich am Leben lassen, wenn ich ruhig bleibe und genau das tue, was sie sagen.«
Jessica setzt sich auf den freien Stuhl am Bett und vergräbt das Gesicht in den Händen.
»Also gut, Laura. Du bist in Sicherheit, hier können sie dir nichts tun«, erklärt sie. Dann nickt sie Jusuf zu.
»Gehen wir.«
»Da ist noch was«, sagt Laura Helminen.
»Was?«
»Ich hab was gehört.«
»Was hast du gehört?«, fragt Jessica.
»Dass ihr bloß den in den Schnee getrampelten Text gesehen habt, aber das Wichtigste nicht.«
»Etwas, das vom Fenster aus zu sehen war?«
»Ja.«
»Sonst nichts?«
»Die haben gesagt, dass meine Familie stirbt, wenn ich die Wahrheit verrate … Ihr müsst meine Eltern schützen, meine
Brüder …«
»Wir kümmern uns darum«, erwidert Jessica, geht an Jusuf vorbei zur Tür und öffnet sie.
»Ihr Mädels scheint nicht miteinander auszukommen«, sagt Teo spöttisch lächelnd, als Jessica und Jusuf den Flur betreten. Jessica wirft ihm einen säuerlichen Blick zu.
»Ich hab eine kleine Aufgabe für dich.«
»Fast hätte ich Lust zu sagen, sieh dir die Befehlskette an, Fräulein Niemi. Ich habe Anweisungen …«
»Ich kann dir den Befehl mit allen Stempeln faxen. Während du darauf wartest, tu mir einen Gefallen«, schnaubt Jessica und baut sich mit verschränkten Armen vor dem großen Mann auf. In der Luft schwebt der Zitrusduft seines Rasierwassers. Sie hat ihn einmal gemocht, aber jetzt bereitet er ihr Übelkeit.
»Was darf’s sein, Jessi?«
»Erstens, sei auf der Hut mit der Patientin. Wir trauen ihr nicht. Zweitens, konfiszier aus Sicherheitsgründen ihr Telefon, und sieh zu, dass Rasmus Susikoski in Pasila es bekommt. Ich bitte jemanden, es hier abzuholen.«
»Warum machst du das nicht gleich selbst?«
»Weil wir es eilig haben. Und weil ich wissen will, ob Helminen in der nächsten Viertelstunde irgendwo anruft.«
Teo lächelt strahlend.
»Okay. Das Fax kannst du vergessen. Aber du könntest mir einen Gegendienst erweisen und irgendwann mal mit mir Eis essen gehen«, sagt er und starrt Jessica unverwandt an.
»Von mir aus. Bring deine Familie mit«, antwortet Jessica und geht zum Aufzug. Jusuf folgt ihr wie ein unsicherer Schatten.