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Der Summer rasselt, und Nina zieht am Türgriff. Die dekorative Treppe ist aus Granit oder einem anderen schönen Stein gebaut, die weißen Streifen auf der glänzenden Oberfläche vermischen sich mit dem hellbraunen Hintergrund. Zwischen der Tür und den Aufzügen stehen einige prachtvolle Säulen, die die Höhe der Eingangshalle betonen. Nina wirft einen Blick auf die Namenstafel. Das Ärztezentrum befindet sich in den ersten drei Etagen, die Verwaltung in der dritten.
Ninas Turnschuhe mit den weichen Sohlen bewegen sich geräuschlos auf dem roten Treppenläufer. Sie geht zügig zu Fuß in den dritten Stock hinauf und klopft an die schwere Eichentür, die allem Anschein nach erst kürzlich einbruchssicher gemacht wurde. Sie weicht vom allgemeinen Gepräge des über hundert Jahre alten Jugendstilhauses ab. Nina stellt fest, dass außer dem Ärztezentrum Bättre morgondag auch eine Stiftung gleichen Namens ihr Domizil in dieser Etage hat.
Nach einer Weile öffnet ein etwa vierzigjähriger Mann in hellrotem Hemd, Bundfaltenhose und mit dunkelblauem Schlips die Tür. Er ist glattrasiert und wirkt äußerst gestresst. Auf seiner Stirn prangt ein großes, beinahe herzförmiges Muttermal.
»Nina Ruska. Von der Polizei«, stellt Nina sich vor und blickt auf ihre Uhr. Es ist fast zwei Uhr nachts, aber der Geschäftsführer Daniel Luoma harrt immer noch an seinem Arbeitsplatz aus. »Schön, dass wir uns so spät noch treffen können.«
»Ich habe ein Nickerchen gemacht, während ich gewartet habe«, sagt der Mann und reicht ihr die Hand. »Daniel Luoma.«
Nina schüttelt ihm die Hand und tritt ein. Es riecht nach frisch gesägtem Holz und Lack.
»Wurden die Räume kürzlich renoviert?«, fragt sie, während sie dem Mann über den Flur folgt. An der Decke brennen helle Lampen.
»Erst vor zwei Monaten ist alles fertig geworden. Wir haben nach und nach Fußböden, Türen und Fensterrahmen erneuern lassen. Sowohl hier im Bürotrakt als auch im eigentlichen Ärztezentrum in den beiden unteren Etagen.«
»Ein alteingesessenes Unternehmen?«
»Ja. Wir sind schon seit 1969 in diesen Räumen. Im Herbst werden es fünfzig Jahre. Das ganze Gebäude gehört der gleichnamigen Stiftung, zu der auch das Ärztezentrum gehört«, erklärt Luoma und winkt Nina, ihm in das Büro zu folgen, vor dessen Tür sie kurz stehen geblieben waren. Nina betrachtet den sauberen Raum, die zum Bulevardi liegenden Fenster und den dahinter rieselnden Schnee. Dann tritt sie ein und setzt sich auf einen Ledersessel vor Luomas Schreibtisch.
»Ich will gleich zur Sache kommen. Sie haben mitgeteilt, dass aus Ihren Vorräten Medikamente sowie Dosierungsgeräte verschwunden sind«, sagt Nina und reibt sich die Augen. Sie ist todmüde, aber jetzt muss sie unbedingt durchhalten. Der Durchbruch ist nah.
Daniel Luoma kratzt sich am bartlosen Kinn. Die Pause ist eine Spur zu lang, doch dann nickt er endlich.
»Und das wurde bei einer Inventur festgestellt?«
»Weil heute von der Polizei … also von Ihnen eine Anfrage kam. Ich habe die Überprüfung selbst vorgenommen.«
»Sie haben die Aufgabe keinem anderen anvertraut.«
»Ehrlich gesagt, wenn man eine solche Aufgabe delegiert, ganz gleich, an wen, kann man nie hundertprozentig sicher sein, dass das Ergebnis korrekt ist.«
»Sie meinen also, jeder der sechzehn Mitarbeiter des Ärztezentrums hätte die Sachen stehlen können?«
»Im Prinzip ja. Fünfzehn, wenn man mich nicht mitrechnet. Und da ich den Fehlbestand bemerkt und gemeldet habe, hoffe ich, dass ich nicht zu den Verdächtigen gehöre.«
»Sind Sie Arzt?«
»Ja. Facharzt für Psychiatrie.«
»Könnte ich eine Liste aller Angestellten bekommen?«, bittet Nina und hält gleich darauf ein offenbar erst kürzlich ausgedrucktes Blatt in der Hand. Kein einziger Name weckt ihre Aufmerksamkeit. Hinter jedem Namen stehen das Geburtsdatum und der Beruf. Fünf Ärzte und Ärztinnen, sechs Pflegekräfte und fünf Verwaltungsangestellte. Nina sieht Luoma an, der besorgt aus dem Fenster schaut. Sein linkes Ohrläppchen ist offenbar irgendwann einmal eingerissen und seltsam vernarbt.
»Psychiatrie … Ist Bättre morgondag ausschließlich auf psychische Erkrankungen spezialisiert?«
»Ach, ich dachte, das wüssten Sie«, sagt Luoma und beugt sich langsam vor. »Ja. Wir haben uns vor allem auf Psychosepatienten spezialisiert.«
»Ein privates Ärztezentrum für Psychosepatienten? Reicht die Nachfrage?«, fragt Nina ungläubig und starrt auf die Namensliste.
»Man könnte wohl sagen, leider ja.« Luoma krümmt seine Finger so langsam, dass der Anblick fast hypnotisierend wirkt. »Nehmen wir zum Beispiel eine der Krankheiten, die eine Psychose verursachen, die Schizophrenie. Deren Häufigkeit liegt in Finnland bei einem Prozent. Allein in Helsinki leiden mehrere tausend Menschen daran. Und einige von ihnen oder von ihren Angehörigen sind bereit, in die Qualität der Behandlung zu investieren.«
»Ein Prozent? Das klingt ziemlich hoch.«
»Ich verstehe. Sie denken an Filme: Norman Bates, John Nash, Wahnvorstellungen, Fantasiegestalten … Nicht bei allen Patienten sind die Halluzinationen so stark. Manchmal sind Niedergeschlagenheit und Stimmungsschwankungen die einzigen Symptome der Krankheit.«
»Hier wurden also anästhetische Medikamente und die dazugehörigen Geräte gestohlen. Wozu verwenden Sie die?«, fragt Nina und umklammert die Sessellehnen. Trotz der kürzlichen Renovierung ist die Luft irgendwie klebrig.
Luoma schaut kurz auf seinen Computerbildschirm.
»Manchmal brauchen Psychosepatienten eine Narkose.«
»Verstehe«, sagt Nina. »Haben Sie irgendeinen Verdacht, wer von Ihren Angestellten die Medikamente entwendet haben könnte?«
»Nein.« Luoma blickt grimmig zurück. Allerdings sieht er Nina nicht direkt an, sondern eher durch sie hindurch.
»Na gut.« Sie steht auf, die Liste in der Hand.
»Setzen Sie sich noch einen Moment«, sagt er ruhig und deutet auf den Sessel.
Nina nimmt wieder Platz, ohne Luoma aus den Augen zu lassen.
»Haben Sie doch einen Verdacht?«
»Nicht direkt. Ich glaube nicht, dass einer unserer Mitarbeiter die Medikamente gestohlen hat.«
»Wer dann?«
»Es gibt da etwas, das Sie wissen müssen.« Luoma schließt die Augen. Er ist plötzlich blass geworden. »Sie untersuchen doch den Tod von Roger Koponen …«
»Ja?«
»Er ist einer unserer ältesten Patienten, und was ich Ihnen jetzt sage, mag völlig verrückt klingen. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich ihn heute auf der anderen Straßenseite gesehen habe, direkt hier gegenüber«, sagt Luoma. Seine Worte scheinen ihn selbst mehr zu überraschen als Nina.