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Jessica klopft fordernd an die Tür. Jusuf steht hinter ihr. Es ist ihnen unangenehm, die alte Frau um drei Uhr nachts aus dem Bett zu holen, aber sie haben keine andere Wahl.
Jessica betrachtet die dunkelgrüne Tür und ihren strahlend weißen Rahmen. Beide wirken verblüffend frisch, als wären sie erst kürzlich gestrichen worden. Das reich verzierte, große Holzhaus auf dem Hügel wirkt, als ob es aus einer anderen Zeit und von einem anderen Ort stammt. Es muss eins der ältesten erhaltenen Häuser in Kulosaari sein, ein Hauch aus der Vergangenheit.
Durch das kleine Fenster sieht Jessica, dass im Flur das Licht angeht. Dann hört sie eine ängstliche Stimme.
»Wer ist da?«
»Polizei. Niemi und Pepple. Wir waren gestern Abend bei Ihnen.«
Einen Moment lang hat es den Anschein, als würde nichts geschehen. Doch dann geht die Tür langsam auf, und in der Diele steht die erschrocken und verschlafen wirkende alte Frau in einem hellblauen Morgenmantel aus Seide, unter dem ein Pyjama in der gleichen Farbe hervorschaut.
»Ich erinnere mich an dich«, sagt sie, gibt die Tür aber nicht frei. Der kalte Wind fährt durch ihre Stirnlocken.
»Frau Adlerkreutz, dürfen wir reinkommen? Es ist wichtig.«
»Was ist los?«
»Dürfen wir?«, wiederholt Jessica so ruhig wie möglich und nickt zur Diele hin.
»Was habt ihr euch für eine Uhrzeit ausgesucht, du meine Güte«, schnaubt die Frau, winkt Jessica aber herein.
»Es tut mir leid, dass ich Sie wecken musste, aber es ist wirklich dringend.«
»Bestimmt«, sagt Frau Adlerkreutz, während Jusuf die Tür hinter
sich zuzieht.
Jessica will weiter ins Haus gehen, doch die alte Frau zeigt auf ihre Schuhe und droht ihr mit dem Finger. »Wärst du so nett, deine Schuhe auszuziehen?«
»Ich … natürlich«, stammelt Jessica stirnrunzelnd. Gestern Abend hatte die Dame eine ganz andere Ansicht in puncto Schuhe.
»Ich müsste noch einmal in Ihr Schlafzimmer.«
»Der Text ist nicht mehr zu sehen …«
»Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich mich trotzdem gern noch einmal umschauen«, fährt Jessica fort, zieht auch den zweiten Schuh aus und stellt beide nebeneinander auf die Fußmatte im Flur. Der Geruch von altem Holz und Feuchtigkeit umgibt sie.
»Ich warte hier«, sagt Jusuf, die Hände in die Seiten gestemmt, und blickt auf seine Schuhe. Jessica lächelt. Jusuf ist zu faul, die Schnürsenkel aufzuziehen und bald darauf wieder zuzubinden.
»Okay.« Jessica sieht die alte Frau an.
»Du meine Güte. Gehen wir also hinauf«, sagt Frau Adlerkreutz leicht pikiert und zieht den Gürtel ihres Morgenmantels straff.
»Habt ihr etwas herausgefunden?«, fragt sie, während sie langsam die Treppe hochgehen. So langsam, dass Jessica Zeit hat, die Fotos an der Wand des Treppenhauses zu betrachten. Wie im Obergeschoss sind es größtenteils schwarzweiße Gruppenbilder.
»Sie können ganz unbesorgt sein. Der Fall wird gelöst werden«, antwortet Jessica, ohne zu wissen, warum sie der alten Dame leere Versprechungen machen will.
Die Stufen knarren unter ihren Füßen. Jessica hört die Frau gähnen. Am Ende des Flurs fällt Licht durch die offene Tür.
»Du wolltest dir das Haus der Koponens ansehen …«, murmelt die Frau.
»Ich brauche nur einen Moment am Fenster. Dann können Sie wieder schlafen gehen«, sagt Jessica und folgt der langsam watschelnden Frau zum Schlafzimmer.
»So, bitte schön. Das Bett habe ich aus naheliegenden Gründen nicht gemacht.«
Jessica lächelt die Frau an und betritt das Schlafzimmer. Sie geht langsam zum Fenster und legt die Finger auf den Rahmen.
Das Wichtigste habt ihr nicht gesehen …