99
Die weißen Wände des Büroraums scheinen mit jeder Minute näher an den Tisch zu rücken, an dem Erne sitzt, das rote Funkgerät, das mit seiner langen Antenne an die klobigen Nokias der 90er Jahre erinnert, ans Ohr gepresst. Der Schweiß, der ihm über die Stirn rinnt, verrät, dass der Stress zusammen mit der Entzündung in seinem Organismus die Körpertemperatur wieder in die Höhe getrieben hat. Jetzt liegt sie vermutlich über 38 Grad. So muss es sein. Allerdings spielt das keine Rolle mehr. Er kann jetzt aufhören, seine Temperatur zu messen. Jetzt, wo er das Todesurteil bekommen hat.
»Was tun wir?« Die tiefe Männerstimme am anderen Ende gehört dem Gruppenführer des Sonderkommandos. Nina, die Erne kurz zuvor zur Leiterin der Operation ernannt hat, ist nicht am Treffpunkt erschienen und meldet sich nicht am Telefon. Erne starrt einige Sekunden durch das Fenster auf die von Kränen eingekreiste schlafende Baustelle, die in einigen Stunden wieder erwachen wird. Er umklammert das Funkgerät und wirft einen Blick auf Rasmus, der ihn über den Tisch hinweg verstört ansieht, die Arme verschränkt und die Finger tief in den Falten seines Pullovers vergraben. Das Sonderkommando müsste Nina suchen. Ihr roter Skoda kann nicht weit weg sein.
»Ihr habt die Adresse?«, fragt Erne und merkt, dass seine Stimme bebt. Es ist die schwierigste Entscheidung in seiner ganzen Laufbahn.
»Ja.«
»Haltet euch an den Plan. Du berichtest mir zeitnah.«
»Roger, over.«
Erne legt das Funkgerät auf den Tisch und greift nach seinem Handy.
»Rasse, gib sofort durch, dass eine Polizeibeamtin vermisst wird. Jede verfügbare Streife soll nach ihrem Skoda suchen, der sich
vermutlich in Laajasalo befindet. Nina hat am Telefon gesagt, sie wäre ganz in der Nähe des Treffpunkts.«
»Okay«, sagt Rasse und springt schneller auf, als man es ihm seiner äußeren Erscheinung nach zutrauen würde.
»Und bitte Micke her. Er soll zum Einsatzort.«
Rasmus nickt und geht, während Erne sich erneut das Handy ans Ohr hält und eine Weile auf das Freizeichen lauscht. Verdammt, Jessica. Was ist los?
Er reibt sich die Brust, um seinen wild galoppierenden Puls zu beruhigen. Er wählt Jusufs Nummer. Keine Antwort. Irgendwas läuft massiv falsch.
Ganz ruhig. Irgendwer ruft bald zurück. Jessica und Jusuf sind zusammen. Sie sind nicht in Gefahr …
Warum zum Teufel hat er nicht entschiedener an seinem Beschluss festgehalten, dass Jessica zu Hause bleiben soll, unter Bewachung, bis der außergewöhnliche Fall gelöst ist?
Jessica ruft gleich an. Oder Jusuf.
»Erne? Der Alarm ist raus, und die Sache läuft«, meldet Rasmus durch die offene Tür. »Auf der Brücke zwischen Laajasalo und Herttoniemi wird ein Kontrollpunkt eingerichtet.«
»Gut. Und Micke?«
»Den hab ich nicht gesehen …«
»Dann such ihn, verdammt nochmal!«, knurrt Erne und hustet. Rasmus verschwindet wieder auf dem Flur.
Erne lässt seine Finger über die Tastatur kreisen, tippt dann bättre morgondag helsinki
in die Suchleiste und klickt das erste Ergebnis an. Er gelangt auf die Team
-Seite und scrollt zu Daniel und Emma Luoma. Übelkeit packt ihn.
Die Luomas sind tot … Daniel Luoma wurde gestern Abend im Kofferraum von Torsten Karlstedts Auto nach Savonlinna gebracht. Lebend, wie die Pathologin bestätigt hat. Die Täter haben Sanna Porkkas Wagen angehalten und sowohl sie als auch Luoma verbrannt. In der Zwischenzeit hat jemand Luomas DNA
im Haus der Koponens verteilt. Emma Luoma wurde entführt, vermutlich zusammen mit ihrem Mann, und dann nach Haltiala gebracht. Und zum Schluss sind diese Unbekannten in die Räume von Bättre morgondag
am Bulevardi gegangen, mit den Schlüsseln des
Ärztepaars, haben die Polizei angerufen und sich mit Nina getroffen. Und jetzt … geht alles zum Teufel.
Erne klickt die Info
-Seite an und überfliegt den kurzen Abriss über die Geschichte des Zentrums.
Bättre morgondag hat sich auf die Behandlung und Therapie von Psychosepatienten spezialisiert … verwaltet von der 1969 gegründeten gleichnamigen Stiftung … Gründerin und Vorsitzende, Fachärztin für Psychiatrie Camilla Adlerkreutz … Alternative, medikamentfreie Behandlungsformen … das Modell des offenen Dialogs.
In den Text ist ein Dutzend Schwarzweißfotos eingefügt.
Ganz oben eine Aufnahme von der ersten Pflegeanstalt Villa Morgon. Dann ein Porträt der Stiftungsgründerin aus den 1960er Jahren. Der Gesichtsausdruck der Frau ist genau derselbe wie auf dem Gemälde, von dem Nina ihm ein Foto geschickt hat. Nur der Hintergrund ist anders.
»Sechs Minuten bis zum Ziel«, verkündet das Funkgerät. Erne bestätigt die Meldung und vergräbt das Gesicht in den Händen.