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Eine Weile ist es so still im Raum, dass Jessica das Knistern der Fackeln hören kann. Der Geruch des Brennöls erinnert sie an ihre Kindheit. An die vor Hitze flimmernde Autobahn.
»Mater pythonissam«, sagt Roger Koponen und verbeugt sich vor der alten Frau. Dann richtet er seinen verstörenden Blick auf Jessica. »Alles hat seinen Zweck, Jessica. Wir haben gerade ein kurzes, aber kraftvolles Manifest ins Netz gestellt, in dem wir unsere Sorge über die durch den Neoliberalismus degenerierte moderne Gesellschaft zum Ausdruck bringen. Wir verurteilen die Freiheiten dieser Gesellschaft, die zu Geschwindigkeitsrausch führen und die Menschen daran hindern, sich zu konzentrieren. Werte zu schätzen. Sich in etwas zu vertiefen«, verkündet Koponen ausdruckslos.
Jessica spürt, dass ihr Körper wieder schlaff wird, als würde sich das Gift in ihrem Organismus stoßweise ausbreiten.
»Du hast … deine eigene Frau getötet?«, fragt sie und schluckt. Ihr Hals fühlt sich betäubt an.
»Maria hat ihr Schicksal selbst besiegelt. Sie vertrat den Widerstand gegen den freien Geist und gegen ein besseres Morgen. Ich hatte keinen Einfluss darauf. Ich wusste nicht einmal, dass es geschehen würde. Wahrscheinlich hätte ich versucht, es zu verhindern, Maria war immerhin meine Frau. Aber im Nachhinein erscheint alles ganz selbstverständlich.«
Jessica versucht sich loszureißen. Sie spannt die Muskeln aufs Äußerste an, doch Arme und Fußgelenke sind fest an den Stuhl gebunden.
»Schau mal, Jessica«, mischt sich Camilla Adlerkreutz ein. »Alles ist im Voraus niedergeschrieben. Genau wie Rogers Bücher. Alles war von Anfang an klar.«
»Aber warum?«, fragt Jessica und spürt eine Träne über ihr Gesicht laufen. Die Angst hat die gefühlsdämpfende Wirkung des Medikaments durchbrochen.
»Das alles mag dir ein wenig verwirrend erscheinen, liebe Jessica«, sagt Camilla Adlerkreutz und winkt Roger Koponen zurück. »Eigentlich brauchst du auch gar nicht zu verstehen, was wir erreichen wollen, es ist ein jahrelanges intensives Studium nötig, um sich in unsere Lehren zu vertiefen. Aber obwohl wir mit aller Kraft an den alten Werten festhalten, sind wir offen für die modernen Methoden, um unsere Botschaft effektiv zu verbreiten. Rogers Hass auf die heutige Gesellschaft hat ihn dazu inspiriert, eine äußerst fesselnde Geschichte zu schreiben. Millionen Menschen in der ganzen Welt haben sie gelesen. Es wäre dumm, diese Chance nicht zu nutzen. Dank Rogers Büchern beginnen die Menschen endlich zu begreifen, was falsch ist in der heutigen Gesellschaft, wie sie mit denjenigen umgeht, die fähig sind, hinter den Nebelschleier zu blicken, den sie über uns wirft. Diesen Lernprozess müssen wir beschleunigen. Weißt du, wie viele in diesem Moment über die Bewegung Besseres Morgen reden? Der Malleus Maleficarum , der Hexenhammer , ist in Millionen westlicher Haushalte ein brandaktuelles Gesprächsthema. Missionsarbeit verlangt heutzutage wenig Mühe, man muss nur alle verfügbaren Instrumente zu nutzen wissen.«
»Aber …«
»Die säkularisierte Welt versucht, diejenigen zum Schweigen zu bringen, denen Gott einen offenen Sinn geschenkt hat. Und wie wir wissen, ist die Fähigkeit, kritisch und kreativ zu denken, die großen Linien zu erkennen, eine Bedrohung für die organisierte Gesellschaft. Man will diese begabten Individuen als Verrückte abstempeln: Man erfindet Diagnosen und verabreicht ihnen Medikamente, die ihren Geist benebeln. Meine Lebensaufgabe ist es, sicherzustellen, dass ihr Potenzial genutzt wird, statt dass sie in Kliniken und in der Obhut ihrer Angehörigen vergessen werden. Ich habe nie Kranke behandelt, Jessica. Natürlich habe ich mich an meine Rolle gehalten und die Begriffe verwendet, die von der Gesellschaft akzeptiert werden. Aber nur um ungestört arbeiten zu können. Nein, ich habe keine Kranken behandelt, denn diese Menschen, solche wie hier, sind alles andere als krank. Ihr alle hier seid ein Lichtblick inmitten der chaotischen, von den Liberalisten beherrschten Hölle.«
Jessica schmeckt eine salzige Träne in ihrem Mundwinkel. Die knochige Hand der alten Frau wischt sie weg. Jessica stockt der Atem. Sie spürt ein Prickeln im Rücken und knisternde kleine Blitze an den Nervenenden ihrer Beinmuskeln.
Jetzt sieht sie im Licht der brennenden Fackeln etwas aufblitzen. Einen Dolch.
»Bin ich das siebte Opfer? Die letzte Hexe?«, wispert sie.
»Du?«, sagt Adlerkreutz fast belustigt. »Verstehst du immer noch nicht, warum wir all das getan haben?«
Es wird immer schwieriger, zu atmen. Die Nase ist voller Rotz, und im Hals sitzt ein riesiger Kloß.
»Ich habe Dutzende Seelen gerettet, Jessica. Sie daran gehindert, ihr Gemüt zu vergiften. Ich habe dafür gesorgt, dass das Leben keines meiner Patienten durch die Diagnose eingeschränkt wurde, die sogenannte Experten aussprechen. Niemand verdient es, als Wahnsinniger abgestempelt zu werden. Selbst die nicht, die sich von mir abwenden. Denk doch mal nach. Es ist mir zu verdanken, dass die armen Menschen, die man sonst mit Medikamenten vollgestopft und mit Bettfesseln ruhiggestellt hätte, ihre Ausbildung und ihre Karriere frei wählen können. Meine Kinder begnügen sich nicht mit Gelegenheitsarbeiten. Sie sind überall. Zu Land, auf dem Meer, in der Luft«, erklärt Camilla Adlerkreutz. »Aber manche kehren mir den Rücken zu, wie deine Mutter und dieser Roger hier.«
»Mutter …«, sagt Jessica leise, doch der Kloß in ihrem Hals erstickt den Ton.
»Die Luomas waren lange die besten Ärzte bei Bättre morgondag . Aber dann haben sie ihre Seele an die Pharmaindustrie verkauft. Ebenso Albert von Bunsdorf.«
»Musste Bunsdorf sterben, weil er nicht an Gott geglaubt hat?«, fragt Jessica.
»Ach, liebe Jessica. Du hast das ganz falsch verstanden. Der Malleus Maleficarum ist nur ein Deckmantel. Es geht nicht um Gott oder den Teufel, sondern darum, dass Albert allmählich zu denen überlief, nach deren Ansicht eine abweichende Hirnfunktion immer Diagnose, Behandlung und Medikation erfordert. Worte wie Schizophrenie, Krankheit, Wahnvorstellungen oder Psychose sind ein Angriff gegen das Anderssein«, sagt Adlerkreutz und hängt eine Weile ihren Gedanken nach. Dann lacht sie schelmisch auf, als hätte sie sich gerade an etwas Drolliges erinnert.
»Ganz zu schweigen von der Blomqvist, der Närrin.« Lächelnd fährt sie fort: »Eine der haarsträubendsten akademischen Untersuchungen der letzten Jahre war die Dissertation dieser jungen Frau, derzufolge eine vom Üblichen abweichende Hirnfunktion nicht nur eine Krankheit sein soll, sondern obendrein von irgendeinem Parasiten verursacht wird.«
»Aber …«
»Begreifst du nicht, wie das System funktioniert, Jessica? Offenbar nicht, weil du es nicht nötig hattest. Glaubst du, du wärst in deinem Leben klargekommen, wenn ich nicht nachgeholfen hätte? Glaubst du, du hättest die Überprüfung durch die Sicherheitspolizei überstanden? Und dein Freund hätte sie überstanden?«
»Was?«, flüstert Jessica und bricht in Tränen aus.
Camilla Adlerkreutz senkt das Kinn auf die Brust und scheint zu beten. Dann steht sie auf und hebt die Arme.
»Detego .«
Eine nach der anderen nehmen die im Halbkreis stehenden Gestalten ihre Kapuzen ab. Ein Mann mit glatten Wangen, dessen Stirn ein Muttermal ziert. Torsten Karlstedt. Kai Lehtinen. Roger Koponen … Eine schöne, dunkelhaarige Frau, die Jessica nicht kennt. Vermutlich diejenige, die gestern Abend an Irma Helles Schaufenster geklopft und die Besitzerin getötet hat. Und als Letzter …
»Es tut mir leid, Jessica«, sagt Mikael und faltet die Hände.
Jessica bekommt keine Luft. Laura Helminens Worte kommen ihr in den Sinn: Weil in deiner Nähe jemand ist, der alles weiß. Der die Situation überwacht und kontrolliert. Sie kommt sich dumm vor. Auf einmal wirkt alles so klar. Der Wasserzähler, die Pistole, das Notizbuch. Wie Karlstedt und Lehtinen auf Mickes Drängen hin festgenommen wurden. Und wie Micke vorgestern Abend nach den gemeinsamen zwei Stunden im Hotel mit Jessica eine Spazierfahrt machen wollte. Um sicherzustellen, dass sie als erste Ermittlerin am Tatort in Kulosaari eintraf, nachdem die Streife Alarm gegeben hatte.
»Hilf mir, Micke«, sagt Jessica leise. Gleichzeitig verwandelt sich ihre Erschütterung in Wut. Die Worte erscheinen ihr schon in der Sekunde überflüssig, als sie ihr entschlüpfen. »Mach mich los, du verdammtes Arschloch!«, brüllt sie nun, doch Mikael erwidert ihren Blick, ohne eine Miene zu verziehen.
»Jessica, meine Freundin. Unsere Reise endet heute, aber deine geht weiter.«
»Was soll das, Micke? Bist du durchgedreht? Hast du jemanden ermordet …«
»Beruhige dich, Jessica«, sagt Adlerkreutz mit einem leisen Lächeln. »Du machst den Fehler, so zu denken wie die meisten Menschen. Dein Blick auf die Welt ist genauso beschränkt wie ihrer. Für sie sind wir Verbrecher. Aber viele andere sehen uns als Helden. Unsere Bewegung ist größer, als du dir vorstellen kannst. Wir haben überall auf der Welt gastfreundliche Brüder und Schwestern. Und bald werden es noch mehr sein. Rogers Bücher finden reißenden Absatz, und unser Manifest haben inzwischen schon Hunderttausende im Internet gesehen.«
»Scheiße, ihr spinnt ja!«
»Merkst du es, Jessica? Du tust es schon wieder. Versuch doch zu verstehen, dass all das, diese mit viel Mühe geschaffene Schatzkarte, nur das Ziel hat, unsere Botschaft zu verbreiten. Das Wissen zu verbreiten.«
Camilla Adlerkreutz dreht sich um und geht zu der roten Decke. Im Licht der Fackeln wirkt die Haut der alten Frau unwirklich, wie nasser Zellstoff, der auf einen aus Draht geformten Körper geklebt wurde.
Die alte Frau beugt sich über die Decke, die Finger mit den schwarz lackierten Nägeln greifen danach, und gleich darauf werden zwei nackte Leiber sichtbar.
Jessica schreit entsetzt auf.
»Der Dolch ist nicht für dich, liebe Jessica«, sagt Camilla Adlerkreutz und richtet sich mühsam auf. »Dein Schicksal ist nicht, zu sterben, sondern weiterzuleben, wenn wir alle tot sind.«
»Jusuf! Nina!«, ruft Jessica, erhält aber keine Antwort. Beide liegen bewusstlos, mit geschlossenen Augen, auf dem kalten Steinboden.
»Maria hat fünf schöne Kleider nähen lassen, Jessica. Genau wie das, in dem deine Mutter bei ihrer ersten Preisverleihung aufgetreten ist. Maria wusste natürlich nicht, was ich, ihre alte Nachbarin, mit den Kleidern vorhatte, war aber bereit, mir zu helfen.«
»Nina, wach auf! Jusuf!«, stammelt Jessica, obwohl sie weiß, dass es sinnlos ist.
Plötzlich ist über ihnen ein Poltern zu hören.
»Sie sind hier«, sagt Mikael, den Blick nach oben gerichtet.
»Das Buch, das deine Mutter nachts gelesen hat«, sagt Adlerkreutz und lächelt Jessica an. »Such es.«
»Welches Buch?«, fragt Jessica mit bebender Stimme.
»Ich bin sicher, dass du weißt, wovon ich spreche. Und ich weigere mich, zu glauben, dass du es weggeworfen hast«, sagt Camilla Adlerkreutz und steht auf.
»Nachts?«
Jessica blickt der Frau tief in die Augen. Plötzlich füllt sich ihr Kopf mit verschwommenen Bildern, mit wechselnden Erinnerungen, die wie ein Film vorbeiziehen. Sie sieht sich selbst als Kind, wie sie im Schlafanzug zur Küche schleicht, aus der Gemurmel dringt. Draußen ist es dunkel, beide Zeiger der großen Wanduhr zeigen nach rechts.
Jessica späht vorsichtig in die Küche, sieht das schöne Abendkleid und die schwarzen Haare ihrer Mutter, die über einem dicken alten Buch hängen. Die Lippen sprechen fremde Worte nach.
Die Vision wiederholt sich, Jessica erwacht immer wieder. Die Uhrzeit ist immer dieselbe, aber Jessica weiß, dass die Nächte wechseln. Sie hat das Gefühl, dass ihre Mutter von ihrer Anwesenheit weiß, obwohl sie nie von dem Buch aufblickt.
Und dann ist es plötzlich Tag, durch das große Fenster scheint die Sonne herein, und Jessica sieht, wie ihr Vater auf dem Küchenschrank herumtastet. Er findet das Buch, blättert aufgeregt darin, und als Mama von der Arbeit kommt, streiten die beiden heftig. Papa will wissen, warum Mama so ein Buch versteckt. Dann schließt Mama sich mit dem Buch im Bad ein, und Vater hämmert gegen die Tür.
»Du weißt, wo es ist, Jessica«, sagt Camilla Adlerkreutz und legt ihre Hand auf Jessicas Stirn. »Und du weißt, dass es dein Buch ist. Es gehört dir, seit Theresa von uns gegangen ist.«
Das Hämmern an der Decke wird lauter.
»Wir müssen uns beeilen, Mater Pythonissam «, sagt jemand im Zimmer, doch Camilla Adlerkreutz wirkt ruhig und ohne Eile.
Jessica will schreien, dafür sorgen, dass die Polizisten diesen Raum im Keller des großen Holzhauses entdecken. Doch die Stimme bleibt ihr im Hals stecken. Keiner der nackten Menschen im Halbkreis macht Anstalten zu fliehen.
Jessica sieht, wie der Dolch erneut aufblitzt, diesmal in der Hand der alten Frau.
»Einige von uns gehen. Einige bleiben. Aber du machst weiter.
Weil du, Jessica von Hellens, genau wie deine Mutter, die Mater pythonissam bist.«
Jessica hört, wie die Menschen ein Lied anstimmen. Eine Melodie, die ihr vage bekannt vorkommt. Dann kracht es irgendwo in der Nähe. Tränen strömen ihr über das Gesicht. Die Hitze breitet sich im ganzen Körper aus, und sie schließt die Augen. Es ist das Lied, das ihre Mutter an jenem Morgen im Auto sang.
Respice in speculo resplendent, Jessica .