106
Erne Mikson hockt sich neben die Leiche, die auf dem Steinfußboden liegt, und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Die Flammen der Fackeln an den Kellerwänden heizen den niedrigen Raum auf. In der Hitze klebt sein Hemd an seinem Rücken, obwohl ihn gleichzeitig Kälteschauder schütteln. Er mag gar nicht daran denken, welches Resultat das Fieberthermometer anzeigen würde, wenn er es sich jetzt unter die Achsel steckte.
»Es wird eine Weile dauern, den Durchgang am Ende des Flurs aufzubrechen«, sagt der Mann vom Einsatzkommando, der neben Erne steht.
»Die sind sowieso nicht mehr im Flur.«
»Kaum«, stimmt der Mann zu, quittiert eine kurze Funkmeldung und geht zur Rückwand, in deren Mitte sich eine meterhohe Öffnung befindet. Daneben lehnt das riesige Ölgemälde, das die junge Camilla Adlerkreutz zeigt, an der Wand.
Erne schließt die Augen und riecht den süßlichen Geruch des Schießpulvers. Er hört das Stimmengewirr, das von einem Dutzend Polizisten, Notärzten und Kriminaltechnikern ausgeht, und die langsamen, unsicheren Schritte auf der Treppe.
»Erne.«
Er hört Rasmus’ Stimme, antwortet aber nicht.
»Erne«, wiederholt Rasmus.
»Was?«
Rasmus tritt näher, die Hände tief in die Taschen seiner braunen Daunenjacke gesteckt.
»Der Krankenwagen ist abgefahren«, berichtet er.
»Und im Wagen ist ein Wachmann bei Jessica?« Seufzend öffnet Erne die Augen.
»Ja.«
»Gut.«
»Ich glaube nicht, dass … Ich meine, wenn sie Jessica töten wollten, hätten sie es vorhin getan«, sagt Rasmus. Er starrt auf seine Schuhspitzen.
Erne steht mühsam auf und sieht ihn an. Am liebsten würde er ihm befehlen, mit dem Wenn und Aber aufzuhören, weiß tief drinnen aber, dass Rasmus recht hat. Camilla Adlerkreutz hat zweifellos einen Grund gehabt, Jessica mit so großem Aufwand in die Falle zu locken, sie dann aber mit einem verhältnismäßig leichten Schock davonkommen zu lassen. Jessica muss irgendeine Erklärung dafür haben. Erne ist jedoch zu erschüttert, um über die Sache zu reden. Das können sie später tun. Zu zweit, nur er und Jessica.
»Ich hab bei der Stadt die Bauzeichnungen ausfindig gemacht«, sagt Rasmus.
»Von dem Tunnel?«
»Ja. Es gibt keine offiziellen Dokumente darüber, nur einen Plan und eine Baugenehmigung aus den 1950ern. Die Stadt Helsinki hat keine Informationen darüber, dass der Tunnel tatsächlich angelegt wurde, geschweige denn, wann und von wem.«
»Deshalb konnten wir nicht nach ihm suchen.«
»Den Zeichnungen nach führt er unter der Brücke von Kluuvilahti zum Luftschutzbunker in Kulosaari. Den hat das Einsatzkommando gerade abgesucht, aber die Typen sind entwischt. Wahrscheinlich hat dort ein Auto auf sie gewartet.«
»Kameras?«
»Nein.« Rasmus kratzt sich am Kopf.
»Unter der Brücke von Kluuvilahti«, wiederholt Erne leise. »Das erklärt, wieso Laura Helminen am Ufer der Koponens aufgetaucht ist.«
»Und auch, wie Maria Koponens Mörder spurlos verschwinden konnte.« Rasmus holt eine kleine runde Dose aus der Tasche. Ungläubig verfolgt Erne, wie der Mann, der seine Körperhygiene sonst so effektiv vernachlässigt, die Fingerspitze in die Dose tupft und das Fett auf seinen spröden Lippen verteilt.
»Bei dem Frost werden sie trocken …«
»Was gibt’s da draußen Neues?«, fällt ihm Erne ins Wort und nähert sich der zweiten Leiche. Wie die erste hat auch sie eine
Stichwunde in der Brust. Ein Messer ist jedoch nirgends zu sehen.
»Bättre morgondag
, also die Bewegung Besseres Morgen, hat die sozialen Medien völlig durcheinandergebracht. Das Video, das Helminen in der Klinik gestreamt hat, ist auf Instagram schon entfernt worden, lebt aber im Internet längst sein eigenes Leben. Das Manifest, das auf Roger Koponens YouTube-Account geladen wurde, ist global eines der meistgesehenen Videos des Tages.«
»Was wird darin verkündet?«
»Es ist ein langer Text.«
»Gib mir eine Kurzfassung.«
»Anarchie, Erne. Wenn auch nicht ganz aus der üblichen Ecke. Ein konservatives Donnerwetter gegen die zu freizügige Gesellschaft. Allerdings wurde die Botschaft ziemlich genial als eine Art Loblied auf das Anderssein formuliert. Alles in allem ein komisches Konzept, das an seiner eigenen Unmöglichkeit scheitern wird.«
»Wenn Roger Koponen von Anfang an beteiligt war – kann es sein, dass er seine Bücher bewusst im Hinblick auf diesen Plan geschrieben hat?«, fragt Erne leise und hockt sich neben die zweite Leiche.
»Das glaube ich nicht«, erwidert Rasmus. »In dem Fall hätte er fähig sein müssen, ihren gewaltigen, jeder Wahrscheinlichkeit widersprechenden Erfolg vorherzusehen.«
Erne nickt und holt die Zigarettenschachtel aus der Tasche.
»Oder er hat nur darauf gehofft.«
Er fischt eine Zigarette aus der Schachtel, steckt sie sich zwischen die Lippen und betrachtet die nebeneinander auf dem Boden liegenden toten Männer. Und dabei drängt sich ihm der Gedanke auf, dass in den Gesichtern von Roger Koponen und Mikael Kaariniemi immer etwas verdammt Seltsames zu lesen war. Als hätten die beiden immer schon ein großes Geheimnis in sich getragen.