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Jessica öffnet die Augen, ihre Lider fühlen sich schwer an. Sie sieht ein Gemälde, das ein Segelboot zeigt, Holzschränke, die breite Tür eines barrierefreien WC s und einen an der Decke hängenden kleinen Fernseher. Sie weiß, dass sie immer noch im Krankenhaus ist und dass Jusuf und Nina leben, sie liegen in benachbarten Zimmern in derselben Klinik. Erne hat ihr die Nachricht gleich am Morgen überbracht, sobald sie aufgewacht war.
»Jessica«, sagt eine Stimme neben ihr.
Sie erblickt ein bekanntes Gesicht, einen straffen Haarknoten und einzelne Strähnen im hellen Sonnenschein.
»Tina?«
Eine runzlige Hand drückt die ihre. Eine Träne rollt über die magere Wange.
»Wie schön, dich nach so langer Zeit wiederzusehen …«
Jessica betrachtet die Frau, die sich die Haare rötlich gefärbt hat und trotz zahlreicher Faceliftings viel älter aussieht, als Jessica sie in Erinnerung hat. Der Stolz und die imposante Erscheinung sind Traurigkeit und Gebrechlichkeit gewichen.
»Wenn du wüsstest, wie oft ich an dich gedacht habe, Jessica.«
»Was willst du?«, fragt Jessica und blickt zum Fenster.
Es wird still. Tina hat sich die Antwort ganz offensichtlich nicht zurechtgelegt. Vielleicht hat sie es versucht, aber nicht die richtigen Worte gefunden.
»Ich möchte, dass du mich nicht für deine Feindin hältst«, sagt sie schließlich und trocknet sich die Augen mit einem Spitzentaschentuch, das sie aus der Handtasche geholt hat.
Jessica schüttelt den Kopf. Es fällt ihr schwer zu begreifen, warum ihre Tante sie besucht, nach all den Jahren. Ihre letzte Begegnung liegt so lange zurück, dass Jessica ihre Stimme nicht wiedererkannt hätte, ohne ihr Gesicht zu sehen.
»Tu ich nicht. Aber ich betrachte dich auch nicht als Freundin, Tina«, antwortet Jessica. Ihre Kehle schnürt sich zu, es ist ein überraschend unangenehmes Gefühl, so unverblümt zu sprechen.
»Aber …«, wispert Tina.
Jessica fuchtelt mit den Händen. »Mama hat dir nicht vertraut«, erklärt sie und merkt, dass sie ebenfalls flüstert. Einen Moment lang ist es völlig still.
»Deine Mutter war krank«, sagt Tina dann mit bebender Stimme. »Sie war der talentierteste und schönste Mensch der Welt, aber sie war auch sehr, sehr krank.«
Jessica dreht den Kopf zur Seite und schließt die Augen. Sie hat diese Worte schon einmal gehört, erinnert sich aber nicht, wo.
»Was meinst du damit?«
Einen Moment lang sieht Tina aus, als wollte sie einen Rückzieher machen und herunterschlucken, was ihr auf der Zunge liegt. Weitere dreißig Jahre schweigen. Nach einem tiefen Seufzer beginnt sie jedoch zögernd zu sprechen.
»Deine Mutter war geistig nicht gesund. Bei ihr wurde schon in jungen Jahren eine paranoide Schizophrenie festgestellt«, sagt sie. Ihr schwaches Lächeln verrät ihre Erleichterung. Der Anfang ist immer am schwierigsten. »Sie konnte aber mithilfe von Medikamenten ein normales Leben führen, und was ihre Arbeit als Schauspielerin betrifft – man könnte sagen, dass sie nicht trotz, sondern vielleicht gerade dank ihrer Krankheit so hervorragend war. Aber für eine zur Oberschicht gehörende Adelsfamilie, wie sie die von Hellens waren, kam es in den 1970er Jahren nicht in Frage, offen über die psychischen Probleme der Tochter zu sprechen. Damit die Sache geheim blieb, wurde Theresa zur Behandlung in ein privates Therapiezentrum gebracht, das Camilla Adlerkreutz leitete.«
»Aber …«, murmelt Jessica und spürt, wie der Druck von ihrem Bauch zum Brustkorb wandert.
»Abgesehen von leichtem Verfolgungswahn und plötzlichen Wutanfällen kam Theresa im Alltag gut zurecht. Mit Anfang zwanzig bestand sie zum Entsetzen unserer Eltern die Aufnahmeprüfung an der Theaterhochschule und begann bald eine Karriere als Schauspielerin, die, wie du weißt, in Finnland immer noch unübertroffen ist. Theresa lernte deinen Vater kennen, der Bühnenbildner am Helsinkier Stadttheater war, und bald darauf wurdest du geboren. Und zwei Jahre später Toffe. Dann seid ihr auch schon nach Amerika gezogen«, sagt Tina und trinkt einen Schluck Wasser aus ihrem Plastikbecher. Die Falten an ihrem mageren Hals erinnern an den Kehllappen eines Hahns.
»Warum erzählst du mir das jetzt?«
»Dein Vater wollte nicht nach Amerika. Er meinte, es wäre besser, in Helsinki zu bleiben. Nicht zuletzt wegen euch Kindern. Sie hatten genug Geld geerbt, daher hätte ein finanzieller Erfolg in den USA euer Leben nicht wesentlich verändert.«
»Mama wollte ihren Traum verwirklichen …«
»Das war nicht der Hauptgrund. Deine Mutter wollte weg, weil sie Angst hatte, zu bleiben.«
»Wovor hatte sie Angst?«
»Vor Camilla Adlerkreutz.« Tina macht eine kurze Pause. Im Flur klirrt ein Servierwagen. »Frau Adlerkreutz hat Theresas Äußerungen damit abgetan, das Mädchen habe Wahnvorstellungen. Ein Wort stand gegen das andere. Du kannst dir ja vorstellen, wem man geglaubt hat, einer Schizophrenen oder einer angesehenen Psychiaterin.«
»Aber … was hat Mama denn erzählt?«
Tina sieht Jessica lange an und räuspert sich skeptisch, als wäre alles zu unglaublich, um wahr zu sein.
»Dass Adlerkreutz in ihrem Keller schwarze Magie praktizierte und dass Kinder und Jugendliche einer Gehirnwäsche unterzogen wurden. Theresa hat erzählt, dass Adlerkreutz ihre Patienten gezwungen hat, an Ritualen teilzunehmen, bei denen sie in Wasser getaucht wurden. Sie wurden körperlich misshandelt, vor allem aber psychisch. Und Adlerkreutz hatte mit dem, was sie ihren Patienten antat, tatsächlich Erfolg. Alle schienen in ihrem Bann zu stehen.«
»Außer Mama?«
»Ja, wenn man bedenkt, wie heftig sie dagegen ankämpfte und versuchte, unseren Eltern klarzumachen, was in der Therapie wirklich passierte.«
Tina bricht in fast lautloses Weinen aus. Sie blickt zum Fenster, durch das helles Licht hereinströmt, putzt sich die Nase und sammelt ihre Gedanken.
»Als sie volljährig wurde, hat Theresa sich geweigert, zu den Sitzungen zu gehen. Aber der Kreis um Adlerkreutz ließ sie nicht in Ruhe. Theresa hat erzählt, dass sie abends auf der Straße verfolgt wurde und seltsame Anrufe bekam. Man drohte ihr schreckliche Folgen an, wenn sie nicht zurückkäme.«
»Paranoides Gerede.«
»Genau. Ich weiß nicht, ob man es unseren Eltern zum Vorwurf machen kann, dass sie Theresa nie geglaubt haben. Deshalb wollte sie weg. Möglichst weit weg.«
»Hat Mama jemals gesagt, warum sie dem Kult so wichtig war?«
»Theresa zufolge hatte Adlerkreutz sie zur künftigen Leitfigur des Kults auserkoren, zu ihrer Nachfolgerin. Camilla Adlerkreutz hat in Theresa etwas Einzigartiges gesehen, vielleicht hatte es irgendwie mit Theresas Sensibilität zu tun und damit, dass sie so eine einnehmende Energie ausstrahlte. Dieselben Eigenschaften, die sie später zum Filmstar machten. Vielleicht hatte deine Mutter ein großes Potenzial, das nicht vergeudet werden durfte.«
Jessica starrt eine Weile ausdruckslos vor sich hin. Sie ist erschüttert, wütend und traurig zugleich.
»Wusste … wusste Papa davon?«, flüstert sie schließlich.
»Theresa wollte nicht, dass dein Vater die Wahrheit erfuhr. Zweifellos hat er die labile Seite deiner Mutter allmählich kennengelernt, aber ich glaube nicht, dass er ahnte, was die plötzlichen Stimmungsschwankungen und den zeitweisen Verlust der Vernunft verursachte. Also hat er versucht, damit zurechtzukommen.«
»Wegen mir und Toffe?«
»Natürlich! Aber ich bin sicher, dass er auch Theresa geliebt hat«, antwortet Tina und leert ihren Becher. »All der Erfolg … ein Leben im Rampenlicht und auf roten Teppichen … Ich weiß nicht, ob es das Leben deiner Eltern letzten Endes leichter oder schwerer gemacht hat, aber nach einigen Jahren war die Situation so unhaltbar geworden, dass dein Vater beschloss, auszuziehen.«
Plötzlich setzt Jessicas Herz einen Schlag aus.
»Der Morgen …«, sagt sie. Ihre Kehle ist trocken.
»Am Abend vor dem Unfall rief dein Vater mich aus Los Angeles an. Ich hatte jahrelang nichts von den beiden gehört und war deshalb total überrascht. Deine Mutter hatte mich und die ganze Familie von Hellens euch gegenüber verunglimpft, aber als das Zusammenleben immer schwieriger wurde, hat dein Vater allmählich begriffen, dass der Fehler doch irgendwo anders lag. Er erzählte mir, dass die Beziehung schon vor längerer Zeit in eine Sackgasse geraten sei, dass er sich in eine andere Frau verliebt habe und zu ihr nach Palo Alto ziehen würde. Er hätte euch gern mitgenommen, aber deine Mutter, die sich gerade auf einen neuen Film vorbereitete, war strikt dagegen. Jedenfalls rief dein Vater mich an und bat mich inständig, hinzufliegen, um meine Schwester zu unterstützen und ihr mit den Kindern zu helfen.«
»Du bist nach Los Angeles geflogen?«
»Natürlich. Theresa war meine Schwester. Aber leider kam ich zu spät …«
»Das Unglück war schon geschehen«, folgert Jessica und schaut zum Fenster hinaus. Der Frost hat einen schönen symmetrischen Stern an die Scheibe gezaubert.
»Als der Unfall geschah, war ich noch im Flugzeug, genauer gesagt im Luftraum über Nevada«, erklärt Tina. Sie wischt sich mit dem Daumen eine Träne ab. »Ich habe erst davon erfahren, nachdem ich zwei Stunden im Taxi vor eurem eingezäunten Wohngebiet in Bel Air gewartet hatte. Schließlich hat die Polizei mich dort abgeholt, mir berichtet, was passiert war, und mich ins Krankenhaus gebracht. Niemand glaubte, dass du überleben würdest, Jessica … Ich werde nie vergessen, wie klein du dort zwischen all den Geräten ausgesehen hast …«
»Du warst also da?«
»Jeden Tag. Vier Wochen lang, während sie dich zusammengeflickt haben. Auch deine Großeltern sind gekommen. Es war auch für sie sehr schwer … Vor allem, weil sie ihre ältere Tochter und deren Familie nach einem langen Zerwürfnis verloren hatten. Ohne die Chance, sich zu versöhnen, die Spannungen abzubauen. Allerdings haben sie weiterhin nicht geglaubt, was Theresa über die Therapie von Camilla Adlerkreutz erzählt hatte.«
»Aber du hast ihr geglaubt?«, fragt Jessica und blickt wieder aus dem Fenster. Die Sonne scheint so hell wie seit Langem nicht.
»Hör mal, Jessica«, sagt Tina. »Ich hätte mich gern um dich gekümmert, aber es war einfach nicht möglich.«
»Weil du keine Kinder mochtest?«
»Ich war zu jung, um dich zu adoptieren, und meine Mutter hatte Brustkrebs und war zu schwach. Die Schwester deines Vaters war die einzige vernünftige Alternative. Und obwohl auch sie die von Hellens nicht besonders mochte, wusste ich, dass es für dich das Beste war. Die Niemis waren gute Menschen.«
»Ja, das waren sie. Glaubst du, ich würde nicht jeden zweiten Tag denken, dass ein Fluch auf mir liegt? Weil ich zwei Mal die Eltern verloren habe? Wer auf dieser Welt hat verdammt nochmal schon vor dem zwanzigsten Geburtstag den Bruder und zwei Elternpaare verloren? Eigentlich bin ich hier die Hexe«, stößt Jessica hervor. Sie kann die Tränen nicht länger zurückhalten. »Glaubst du, das Geld macht es leichter?«
»Ich weiß sehr gut, dass Geld nichts leichter macht, Jessi«, sagt Tina und streicht Jessica über die Haare. Eine Geste, die Jessica zu ihrer eigenen Überraschung nicht abwehrt. »Du erinnerst dich sicher nicht mehr, aber wir haben versucht, mit dir in Verbindung zu bleiben, nachdem die Niemis dich adoptiert hatten. Wir dachten wirklich, dass du eines Tages deinen Groll auf uns vergisst und wir zusammen Eis essen gehen könnten, in den Vergnügungspark … Etwas Schönes unternehmen.«
»Und nach dem Tod deines Mannes hattest du nichts Besseres zu tun, als mich in Venedig aufzuspüren?«
»Alle haben sich Sorgen gemacht, Jessica. An der Universität fing das Semester an, die Raten für die Wohnungen in der Töölönkatu waren nicht bezahlt, der Gerichtsvollzieher stand vor der Tür. Ich musste jemanden hinter dir herschicken.«
»Warum bist du hier?«
»Weil du schon mehr als dreißig Jahre gelebt und dir Gedanken über den Unfall deiner Eltern gemacht hast, ohne die Wahrheit zu kennen. Du wusstest, dass deine Mutter uns gehasst hat. Du hast bestimmt ein Dutzend Gründe dafür gehört, die wahrscheinlich zum größten Teil der Fantasie deiner Mutter entsprungen waren. Aber jetzt weißt du die Wahrheit: Sie hat uns gehasst, weil wir ihr nicht glaubten. Wir hielten sie für eine paranoide Schizophrene – was sie ja auch war – und glaubten ihr nicht, als sie uns erzählte, was Adlerkreutz ihr angetan hatte.«
Tina hebt ihre Tasche vom Boden auf und holt ein zusammengefaltetes Papier heraus. Jessica betrachtet es eine Weile, greift zögernd danach und faltet es auseinander.
Zentrum für Unfalluntersuchung des Bundesstaates Kalifornien
Ort: Los Angeles, 4280 Lincoln Blvd 33°58’41.1”N 118°26’08.9”W
Zeitpunkt: 05/04/1993, 7:45
Eine Weile ist es still, das Summen der Geräte verstummt, auf dem Flur sind keine Schritte mehr zu hören. Jessica begreift, dass sie es immer gewusst hat, aber nicht glauben wollte. Wenn man etwas weit genug verdrängt, ist es nicht mehr sichtbar, doch es verschwindet nie. Jessica spürt, wie ihr Bruder ihre Hand immer fester umklammert. Sie sieht, wie ihre Mutter sie im Rückspiegel betrachtet. Mamas Augen sind nicht mehr traurig, sondern eher hoffnungsvoll. Als ihre Blicke sich treffen, hebt Mama die dunklen Augenbrauen, ihr Mund verzieht sich zu einem Lächeln. Die Trauer ist verflogen, und es scheint, als würden auch ihre Augen lachen. Bald ist alles gut, mein Schätzchen. Papa, der aus dem Fenster starrt, schrickt auf, als der Wagen über den Mittelstreifen fährt. Er brüllt und versucht, das Lenkrad zu packen.
Bald sind wir wieder glücklich.
Die Stille, die immer länger anhält. Eine unendliche Stille, deren Farbe weiß ist und die nach heißem Asphalt und Abgasen riecht, eine Leere, die ihr in dieses Krankenzimmer folgt, in dem alles wieder eine Bedeutung bekommt.