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Erne hat sich gewünscht, dass ich heute etwas sage. Das ist eine große Ehre, und ich habe ihm erklärt, dass ich es auf jeden Fall vorhatte, ob er es will oder nicht.
Wir alle haben Erne geliebt. Um das zu sagen, braucht man keine lange Rede oder schönen Worte. Denn irgendwo dort oben sitzt Erne und schaut immer wieder auf seine Uhr. Dieser Anblick hat, wie alle wissen, jedem Redner Tempo gemacht. Also fasse ich mich kurz.
Meine letzte gemeinsame Ermittlung mit Erne betraf einen Fall, bei dem einer der Täter ein berühmter Schriftsteller war. Deshalb – so schrecklich es erscheinen mag – möchte ich über das Schreiben sprechen.
Ich glaube nämlich, dass wir alle Autoren unseres eigenen Lebens sind. Wir schreiben jeden Tag unsere eigene Geschichte, ganz einfach indem wir sie leben. Indem wir sehen, hören, erfahren, Fehler machen und hoffentlich aus ihnen lernen. Die Geschichten mancher Menschen erregen Bewunderung und Neid, andere wiederum Mitleid oder gar Missbilligung. Es gibt unendlich viele literarische Geschmacksrichtungen und unzählige Kritiker, die es als ihre Aufgabe betrachten, die Art, wie andere ihr Leben schreiben, zu beurteilen. Ich selbst denke, dass mein Buch kein großer Erfolg zu werden braucht. Die Kritiker dürfen davon halten, was sie wollen. Meine Geschichte muss nicht Dutzende, Hunderte oder Tausende Menschen erreichen. Ein kleines Publikum ist sogar besser. Ich möchte nämlich nicht, dass mein Buch nur deshalb als fade oder banal empfunden wird, weil sein Leser mich nicht gut genug kennt. Deshalb ist in diesem Fall, wie so oft, die Qualität wichtiger als die Quantität. Ich möchte, dass diejenigen, die mein Buch aufschlagen, die Autorin unabhängig vom Inhalt schätzen und respektieren. Ich möchte jemanden, der auch dann darum bittet, weiterlesen zu dürfen, wenn es nichts mehr zu erzählen gibt. Ich möchte einen Leser, der meinem Text treu ist.
Erne war der erste Leser, Lektor und Kritiker meines Erwachsenenlebens, alles in einem. Wir waren nicht immer einer Meinung, aber ich wusste, dass er meinen Text respektiert. Trotz meines umherschweifenden und von einem Thema zum anderen springenden Stils schien er immer irgendwie zu wissen, wohin der Text führt. Und dass er beim Lesen meist friedlich und ruhig wirkte, gab mir den Glauben, dass ich trotz allem ganz gut zurechtkommen werde. Trotz kleiner Fehler.
Jetzt, da du von uns gegangen bist, erscheint es schwierig, weiterzuschreiben. Aber gerade deshalb ist es wichtig, nicht aufzuhören. Unsere Geschichten gehen weiter, und deine Geschichte lebt in ihnen.
Danke, lieber Erne. Und gute Reise.
»Mir fehlen die Worte«, sagt Erne, als Jessica das Blatt Papier auf den Tisch legt. Beide wischen sich Tränen aus den Augen. Er spricht mühsam, man sieht ihm an, dass jedes Wort ihn anstrengt.
Jessica putzt sich die Nase und lächelt den mageren Mann an, dessen knochige Hände auf den Lehnen des Rollstuhls ruhen.
»Du kannst wirklich schreiben, Jessica.«
Jessica lacht unwillkürlich auf und pustet eine Haarsträhne aus der Stirn.
»Das stimmt mich nicht fröhlich. Nicht jetzt.«
»Danke, dass du es mir vorgelesen hast.«
»Ich finde es irgendwie«, Jessica fasst gerührt nach Ernes Hand, »wichtig, dass du hören darfst, was alle anderen hören werden. Dass dir nichts entgeht. Vor allem, weil es dich selbst betrifft.«
Erne hustet rasselnd, lächelt aber.
»Na, wer weiß, ob überhaupt jemand kommt«, sagt er.
»Natürlich kommen alle. Red keinen Blödsinn.« Jessica tätschelt seine Hand.
Das Wasser im Kocher rauscht. Aus den Lautsprechern im Wohnzimmer tönt Frank Sinatras Fly Me to the Moon , Ernes absolutes Lieblingslied.
»Möchtest du Tee?«
»Nein danke. Ich glaube, ich gehe mich jetzt ausruhen.«
»Bist du sicher? Vielleicht ein belegtes Brot?«, fragt Jessica und hört den besorgten Klang in ihrer Stimme. Sie möchte nicht, dass der gemeinsame Moment endet. Erne wirkt so erschreckend ruhig und sicher. Bereit. Er scheint mit der Welt um sich herum im Reinen zu sein, er hat seine eigene Winzigkeit und seine mikroskopisch kleine Rolle in dem Millionen Jahre umfassenden Kontinuum akzeptiert.
»Ich muss mich jetzt hinlegen.«
»Natürlich … Ich helfe dir.«
»Jessica«, sagt Erne, fasst sie sanft am Handgelenk und zieht sie vorsichtig auf ihren Stuhl zurück.
Eine Weile sitzen sie einfach nur da, Erne blickt Jessica tief in die Augen.
»Danke, Jessica.«
»Du solltest dich jetzt ausruhen, Erne. Morgen kommen die Jungen«, sagt sie mit bebender Stimme. Er lächelt müde.
»Jetzt kommen sie, um Abschied zu nehmen … Sie haben sich lange nicht blicken lassen.«
Er senkt den Blick auf seine Hände. Die Spatzen zwitschern fröhlich im Museumspark gegenüber, dessen Bäume sich erst kürzlich grün gefärbt haben. Der Frühling ist gerade jetzt besonders schön.
»Danke, dass ich diese Wochen bei dir verbringen durfte«, sagt Erne schließlich und lächelt. Er lässt seinen Blick ruhig durch die große Küche wandern und schließt dann die Augen. Seine Lider wirken schwer, es muss harte Arbeit sein, sie wieder zu heben.
Jessica schluckt und betrachtet die Gedenkrede, die auf dem Tisch liegt. Wenn sie sie das nächste Mal hält, wird Erne sie nicht mehr hören können.
»Magst du den Burschen?«, fragt Erne plötzlich.
»Wen? Fubu? Ich denke schon. Er ist lustig. Und unkompliziert.«
»Lustig ist gut.«
»Aber nicht genug?«
Lächelnd schüttelt Erne den Kopf.
»Versprich mir eins, Jessi.«
»Was denn?«
»Schau nie zurück. Immer nach vorn …«
»… weil das Leben nur vor dir liegt.«
»Exakt.«
Ein kurzer Signalton ist zu hören, und Erne zieht mühsam das Fieberthermometer unter der Achsel hervor.
»Hast du Fieber?«
Ein euphorisches Lächeln legt sich auf sein Gesicht.
»36,5.«
»Prima. Komm jetzt, Ser Davos . Ich helf dir ins Bett«, sagt Jessica und kneift Erne in die Wange. »Morgen ist ein neuer Tag.«