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Jessica
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Jessica schlägt die Augen auf. Im Wohnzimmer ist es dunkel, der Timer hat den Fernseher ausgeschaltet. Die Uhr der Digibox zeigt halb vier. Draußen heult der Wind und lässt die Fenster knacken.
Wieder hat jemand Jessica gerufen. Es war Ernes Stimme. Die des gesunden Erne, nicht des gebrechlichen Mannes, den eine schwere und schnell voranschreitende Krankheit dahingerafft hat. Erne, auf dessen Grab sie einen Strauß Löwenzahn gelegt hat.
Jessica
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Nun ist sich Jessica nicht mehr sicher, ob die Stimme einem Mann oder einer Frau gehört. Plötzlich merkt sie, dass sie aufgestanden ist. Das Handtuch, in das sie sich am Abend nach dem Duschen gewickelt hat, fällt auf den Boden. Jessica macht einen Schritt. Dann noch einen. Ihre Glieder fühlen sich leicht an, sie hat keine Schmerzen. Es ist, als würde sie über das Parkett schweben. Gleitend, ohne Reibung zwischen den Fußsohlen und dem Boden, ohne Berührung mit der Materie.
Komm her, Liebling
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Wer immer dort spricht, ist Frau und Mann zugleich. Es könnten Erne, Nina, Jusuf, Tina, Vater und Mutter gemeinsam sein.
Jessica geht auf den langen Esstisch zu, auf die Gestalten, die aufrecht an ihm sitzen. Ein schönes schwarzes Abendkleid liegt sauber und glatt gebügelt auf dem Tisch. Das fünfte Kleid. Daneben stehen hochhackige Schuhe, glänzend und zierlich. Sicher die schönsten Schuhe der Welt.
Jessica hält mitten in ihrer leichten Bewegung inne und dreht den Kopf zum Spiegel. Irgendetwas stimmt nicht. Es ist, als würde das zurückstarrende Spiegelbild seine eigenen Bewegungen eine Spur zu spät machen, als würde es anstelle einer exakten Kopie spontan auf
die Realität reagieren, die Jessica verkörpert.
Respice in speculo resplendent.
Ich bin es.
Natürlich, Liebling.
Aus den Augenwinkeln sieht Jessica, dass die am Tischende sitzende Frau im schwarzen Abendkleid ein dickes altes Buch liest. Ich lese es auch, Mama.
Neben der Frau sitzt Camilla. Nicht die zerbrechliche alte Frau Adlerkreutz, sondern die junge Camilla, deren physisches Kraftfeld bis zum Spiegel reicht.
Vergiss nicht, was ich getan habe, Jessica. Denk daran, dass ich dich und deine Freunde verschont habe. Das ist ein Geschenk, das ich dir jederzeit wieder wegnehmen kann.
Jessica nickt. Camilla lächelt fast unmerklich und wendet den Blick ab.
Plötzlich überkommt Jessica eine starke, kindliche Liebe und Zuneigung zu ihren Eltern, sie möchte ihnen alles recht machen. Sie will, dass ihre Mutter stolz auf sie ist.
Bring mir das Buch, Mama. Ich lese es auch.
Die Frau steht langsam auf. Es ist tatsächlich Mama. Ihre Bewegungen sind steif und mechanisch. Sie ist wie die Marionette eines ungeschickten Puppenspielers, deren Fäden sich verknotet haben.
Jessica schließt die Augen, und als sie sie nach ein paar Sekunden wieder öffnet, sieht sie im Spiegel, dass ihre Mutter hinter ihr steht. Mutters Gesicht ist alles andere als schön. Es ist fast bis zur Unkenntlichkeit zermalmt, und vom Scheitel fließt Blut über das eine Auge zum Kinn.
Jessica spürt, wie ihr Tränen in die Augen steigen.
»Warum weinst du, mein Schatz?«
»Ich weiß, was du getan hast, Mama. An dem Morgen im Auto.«
»Ich wollte dich nicht zum Weinen bringen, Liebes.«
Mutters kalte Hand auf ihrer Schulter.
»Nein. Ich weine nicht, weil du es getan hast.«
»Warum dann?«
»Weil ich es verstehe.«