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V ergiftete Luft strömte aus dem Kofferraum nach vorn in den Wagen und entfaltete augenblicklich ihre verheerende Wirkung.
Rica Kantzius, die sich gerade in den neuen Fall hatte einlesen wollen, presste sich eine Hand vor Mund und Nase, doch das nützte nichts, denn längst hatte sie die unsichtbar kleinen, aber dennoch hocheffizienten Partikel eingeatmet. Niemand konnte sich gegen einen solchen Angriff zur Wehr setzen.
»Ragna!«, schrie Jan Kantzius und schlug mit der Hand aufs Lenkrad des Defender. »Nicht schon wieder … das darf doch nicht wahr sein!«
Ragna, ihr Wolfshund hinten im Kofferraum, hob den Kopf und warf ihnen einen Blick zu, der zu verstehen gab, dass er rein gar nichts mit diesem Gestank zu tun hatte, dann widmete er sich wieder seinen Träumen und seiner Flatulenz.
»Du bist schuld, nicht Ragna«, sagte Rica hinter vorgehaltener Hand und kurbelte mit der anderen das Fenster der Beifahrertür hinunter. »Ich hab’s dir doch gesagt: Hunde vertragen keine Spaghetti aglio e olio.«
»Das bisschen«, verteidigte sich Jan. »Ich glaube, er ist krank. Magen-Darm-Infekt wahrscheinlich.«
Rica konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Ihr Mann Jan war wie ein kleiner Junge, wenn es um den Hund ging, den er aus tiefstem Herzen liebte. Vielleicht nicht ganz so, wie er sie liebte, aber viel fehlte nicht – zumindest hoffte Rica, dass es so war. Wenn Ragna Jan beim Essen nur lange genug anstarrte, bekam er irgendwann seine Portion, ganz gleich, was Jan gerade zu sich nahm. Er argumentierte immer, Hunde seien Allesfresser, ließ dabei aber gern außer Acht, dass das nur für natürlich vorkommende Nahrung galt, nicht für Pommes, Ravioli oder Spaghetti mit Knoblauchdressing.
Sie kamen gerade aus Erfurt, von einer Veranstaltung bei Amissa, der Hilfsorganisation, für die Rica weltweit nach vermissten Menschen suchte. Seit zwei Stunden waren sie auf der Autobahn unterwegs, und alle dreißig Minuten furzte der Hund hinten im Kofferraum, was das Zeug hielt. Die Ausdünstungen waren so aromatisch, dass Rica schon einen Belag auf der Zunge spürte, der sie an ihre letzte Mahlzeit beim Italiener erinnerte. Jan behauptete hingegen, so schlimm sei es doch gar nicht.
Lange konnte sie das Fenster nicht geöffnet lassen, da es regnete und der Fahrtwind die Tropfen ins Wageninnere drückte. Also kurbelte Rica es wieder hoch, bis nur noch ein schmaler Spalt blieb, durch den mehr Geräusche als frische Luft hereindrangen – immer noch besser, als zu ersticken.
»Vielleicht verträgt er das Autofahren einfach nicht«, sagte Rica, um Jan zu veralbern, doch der blieb ernst.
»Glaub ich nicht. Und selbst wenn, er kann ja schlecht dauernd allein zu Hause bleiben.«
Jedes seiner Worte machte deutlich, wie undenkbar es für ihn war, Ragna länger als einen Tag und eine Nacht allein auf dem Hof zu lassen.
»Wie auch immer, für die nächste Fahrt besorge ich Atemschutzmasken.« Rica stellte sich vor, wie sie beide mit diesen Masken vor dem Gesicht im Wagen saßen, während hinten der Hund sich flatulierend wohlfühlte, und brach in Lachen aus. Jan fiel mit ein. Zusammen lachten sie, bis Rica Tränen aus den Augenwinkeln rannen.
Jäh und sehr nachdrücklich wurde ihr wieder einmal bewusst, wie sehr sie diesen Mann neben sich liebte und dass es kein für sie vorstellbares Szenario ohne ihn gab.
Sie wischte sich die Tränen aus den Augen, beugte sich hinüber und küsste ihn.
»Was hast du da?«, fragte Jan schließlich und deutete auf ihr Handy, in dem sie kurz vor dem Giftgasalarm gelesen hatte.
»Ein neuer Fall.«
»Echt? Schon wieder? Willst du nicht mal eine Pause einlegen?«
»Es sind zu viele für eine Pause.«
»Ja, aber die haben dich ohnehin schon angestarrt auf dem Empfang.«
»Ach, ich werde doch immer angestarrt, das merke ich schon gar nicht mehr.«
Was nicht stimmte. Rica verfügte über sehr feine Antennen, sie musste es nicht sehen, ob jemand sie anstarrte, sie spürte es. Wenn man in einem Land lebte, in dem neunundneunzig Prozent der Menschen so vollkommen anders aussahen als sie, war ein Übermaß an Aufmerksamkeit Alltag. Ablehnung ebenfalls. Und in letzter Zeit war auch offen zur Schau getragener Rassismus nicht mehr ungewöhnlich. Rica stammte aus der Karibik. Ihre Haut war dunkel, ihr Haar und ihre Augen ebenfalls, sie war exotisch, wie Jan gern sagte, und er meinte damit, dass sie einen gewissen Zauber ausstrahlte, zumindest auf ihn. Für viele andere galt das nicht. Sie sahen das Fremde, das ihnen Angst machte, weil sie es nicht in Schubladen ablegen konnten.
»Das meine ich nicht«, sagte Jan. »Sie waren neidisch auf deinen Erfolg. Du hattest in diesem Jahr die beste Quote. Sieben! Sagst du dir das eigentlich oft genug? Du hast sieben seit Langem vermisste Menschen gefunden. Und das auch deshalb, weil du ohne Pause arbeitest.«
»Drei aber nur tot«, konkretisierte Rica. Sie wusste, sie sollte sich über ihren Erfolg freuen, aber wenn sie nicht schlafen konnte und darüber nachdachte, fielen ihr nur die Toten ein. Tote konnte man nicht in die Arme schließen. Eine Leiche war für die Angehörigen kein wirklicher Trost.
Immer wieder war es die Zeit, die alles durchkreuzte.
Die Zeit heilte nicht, sie verwundete, sie beschleunigte und erstarrte zugleich, und viel zu oft reichte sie nicht aus. Viel zu oft kamen sie zu spät.
Jan legte ihr eine Hand auf den Oberschenkel. »Ob tot oder lebendig, am Ende schaffst du Gewissheit.«
Ricas Lächeln fiel gequält aus, das spürte sie selbst. Sie arbeitete gern für Amissa, und dank Jan hatte sie eine höhere Erfolgsquote als alle anderen. Sie waren das beste Team. Aber gestern, als Ansprachen, Ehrungen und Beifall ihrer Arbeit Respekt zollen sollten, war Rica wieder einmal bewusst geworden, dass es nie enden würde. Niemals.
Solange es mächtige, alte weiße Männer gab, würden machtlose junge Frauen verschwinden.
»Ich bin stolz auf dich«, sagte Jan. »Phönix aus der Asche ist lächerlich im Vergleich zu dir.« Diesmal wollte er sich zu ihr herüberbeugen, um sie zu küssen, doch dazu kam es nicht.
Jan stieß einen gepressten Laut aus, der sich wie »Shit« anhörte, und stieg hart auf die Bremse.
Rica wurde in den Gurt gepresst, Ragna gegen die Rückenlehne der hinteren Sitzbank. Natürlich war auch der Hund angeschnallt, sodass er nicht durch den Wagen fliegen konnte.
Vor ihnen auf der Autobahn leuchteten die Bremsleuchten aller Fahrzeuge auf, ein kreischendes Rot, in dem die Regentropfen wie Blut erschienen. Autos schlingerten auf der nassen Fahrbahn, eines touchierte die Mittelleitplanke und wurde zurückgeschleudert. Damit war das Chaos perfekt. Wagen krachten ineinander, stellten sich quer zur Fahrbahn, eines holperte rechts die Böschung hinunter und überschlug sich.
Rica schrie auf und stemmte die Hände gegen das Armaturenbrett.
Jan kurbelte am Lenkrad, spielte mit Bremse und Kupplung und versuchte, sie unbeschadet durch das wie aus dem Nichts entstandene Chaos zu lavieren. Rica spürte, wie das Heck des massiven Defender einen anderen Wagen touchierte, und fürchtete, Jan könnte die Kontrolle verlieren. Instinktiv wollte sie die Augen schließen, kämpfte jedoch dagegen an. Es hatte eine Zeit in ihrem Leben gegeben, da hatte sie die Augen zuerst vor der Gefahr und später aus Scham geschlossen, und sie hatte sich geschworen, das niemals wieder zu tun.
Es bestand ein Zusammenhang zwischen Wegschauen und der ungehemmten Entfaltung des Bösen auf der Welt.
Und weil sie hinsah, bemerkte Rica den Körper, der vielleicht zwanzig Meter vor ihnen durch die von rotem Licht und Wasser gesättigte Luft flog, auf der Motorhaube eines Fahrzeugs aufprallte, seitlich fortgeschleudert und von einem weiteren Wagen überrollt wurde.
Wieder schlug sie sich eine Hand vor den Mund, aber diesmal war blankes Entsetzen der Grund, und sie konnte das halb erstickte Geräusch nicht zurückhalten.
Jan brachte den schweren Wagen zum Stehen.
»Bleib sitzen!«, warnte er und behielt den Rückspiegel im Auge. Von hinten näherten sich immer noch Fahrzeuge in hoher Geschwindigkeit, und es bestand die Gefahr, dass sie in die Unfallstelle hineinrasten.
Ragna winselte und reckte die Schnauze über die Sitzbank.
»Alles gut, ist gleich vorbei«, beruhigte Jan ihn.
Rica spürte, wie sie am ganzen Körper zu zittern begann.
Jan ergriff ihre Hand. »Alles in Ordnung bei dir?«
Sie nickte und schluckte einen Kloß im Hals hinunter. »Hast du … den Körper …?«
Jan drückte ihre Hand fester. »Ja, ich hab’s gesehen. Bleib hier bei Ragna, ja? Ich schaue, was ich tun kann.«
Rica nickte, und nach einem erneuten Blick in den Rückspiegel stieg Jan aus. Er ließ die Tür geöffnet, sah sich um und ging zu der Stelle hinüber, an der der Körper liegen musste.
Jan spürte seine Schritte langsamer werden. Jeder einzelne fiel ihm umso schwerer, je näher er dem Körper kam, der dort auf der Fahrbahn lag.
Um ihn herum herrschte Chaos. Es roch nach verbranntem Gummi, heißer Kühlflüssigkeit und Motoröl. Jens sah demolierte Autos, er schritt über Glassplitter von zerstörten Scheinwerfern und Windschutzscheiben. Inzwischen waren etliche Menschen ausgestiegen, die meisten standen herum, wirkten orientierungslos und verstört, andere halfen denen, die in ihren Autos eingeklemmt oder zu schwer verletzt waren, um aussteigen zu können – nur um diesen Körper wollte sich niemand kümmern.
Es war klar, dass die Person einen solchen Aufprall nicht überlebt haben konnte.
Wahrscheinlich ein Selbstmord, dachte Jan. Warum sonst sollte jemand auf eine stark befahrene Autobahn laufen?
Der Regen durchnässte Haar und Kleidung, und Jan begann zu frieren. Die Kälte hatte ihren Ursprung jedoch in seinem Inneren. Wieder einmal war er mit dem Tod konfrontiert, auch wenn diesmal ein Unfall dafür verantwortlich war und nicht er selbst – oder eines dieser Monster, die die Welt bevölkerten.
Auf der rechten Seite der Autobahn befand sich eine Raststätte. Jens sah die hell erleuchtete Tankstelle, das Restaurant und den Parkplatz, der mit Vierzigtonnern zugestellt war. Einige Leute kamen trotz des miesen Wetters aus dem Restaurant herübergelaufen. Handys blitzten auf.
Gaffer. Wie Jan die hasste! Sollte es einer von denen wagen, hierherzukommen, um ein Foto von der Leiche zu seinen Füßen zu machen, würde er sein blaues Wunder erleben.
Jan senkte den Blick.
Der Leichnam sah unsäglich klein, verloren und abstrus verbogen aus. Ein junges Mädchen, sicher noch keine zwanzig Jahre alt, in engen Bluejeans und einer blauen Steppjacke, die überall aufgerissen war und aus der weißes Füllmaterial quoll, hier und dort mit Blut getränkt. Sie trug keine Schuhe und am rechten Fuß auch keine Socke mehr. Da sie auf dem Rücken lag, konnte Jan sehen, was von ihrem Gesicht übrig geblieben war. Die komplette rechte Seite des Schädels lag frei. Blanker, hell schimmernder Knochen, von dem der Regen die letzten roten Schlieren wusch.
Hoffnung, ihr helfen zu können, hatte Jan nicht, dennoch ging er auf die Knie und legte zwei Finger an die Halsschlagader des Mädchens.
Kein Puls, natürlich nicht, was hatte er …
Plötzlich ging ein heftiges Zucken durch den zerstörten Körper, eine Spastik, unter der sich die Hüfte emporbog, und obwohl Jan erschrak und zurückwich, sah er, wie sich die Lippen der Totgeglaubten bewegten.
Sie sprach zu ihm.
Jan beugte sich vor und ergriff ihre Hand, die sie nach ihm ausstreckte.
»Die Grube …«
Mit diesen Worten auf den Lippen starb sie wirklich.
Dann öffnete sich ihre Hand und offenbarte ein Stück zusammengeknülltes weißes Papier.