3 .
M aja Fischer sehnte das Ende des ersten Schultags an der neuen Schule in Feldberg herbei. Schon seit geraumer Zeit folgte sie dem Englischunterricht nicht mehr.
Die Bauchschmerzen, mit denen sie heute früh aufgewacht war und die auf dem kurzen Fußweg zur Schule noch schlimmer geworden waren, hatten sich zwar gelegt, aber sie fühlte sich noch immer elend und tief verunsichert.
Den Drang, ihr Handy aus der Tasche zu nehmen, konnte sie nur mühsam unterdrücken. Noch nie zuvor in ihrem Leben war sie so dankbar gewesen für WhatsApp, denn es war die einzige Möglichkeit, mit ihren Freundinnen in Kontakt zu bleiben und zu erfahren, wie es ihnen ging und was sie machten.
Zudem gab es Peer bei WhatsApp – und nur dort!
Ohne ihn wäre sie längst verzweifelt.
Als es endlich zum Schulschluss klingelte, sprang Maja auf und raffte ihre Sachen zusammen, so schnell es ging. Sie hatte das Gefühl, das Mädchen neben ihr, Vera oder so, wolle ein Gespräch mit ihr beginnen, aber Maja hatte kein Interesse daran. Sie wollte raus, nur raus, allein sein, mit Peer schreiben, der sie verstand wie niemand sonst.
Vom Hauptausgang der Schule musste sie den Vorplatz überqueren, dann über die Straße und den Parkplatz des Supermarkts bis ans Ende einer Wohnstraße. Dabei handelte es sich um eine Sackgasse mit Wendehammer, von dem ein unbefestigter Weg in das Waldstück führte, das diesen Stadtteil von jenem trennte, in dem ihre Mutter glaubte, eine neue Heimat gefunden zu haben.
In diesem Wald gab es einen Friedhof. Eingebettet zwischen hohen Bäumen und sanften Hügeln, lag er still und verwunschen da mit seinen alten Gräbern, bemoosten Grabsteinen aus Sandstein und der Kapelle aus rotem Ziegelstein, an deren Giebelseite Efeu emporwuchs.
Ein stiller Ort war das, scheinbar fernab jeglicher Realität, und als Maja den Friedhof entdeckt hatte, war ihr sofort klar gewesen, dass sie dort viel Zeit verbringen würde. Ein schmaler Forstweg führte an der Einfriedung entlang einmal um das ganze Areal herum, das zum Schutz gegen Rehe mit einem zwei Meter hohen Maschendrahtzaun umgeben war.
Auf der Rückseite gab es eine zweite Pforte. Maja ging hindurch, schloss sie hinter sich und ging hinüber zu der Bank zwischen den im Halbrund angelegten Mauern, in denen die Urnen der Feuerbestatteten untergebracht waren.
Niemand hielt sich zur Mittagszeit dort auf.
Erstaunlicherweise gab es an diesem einsamen Platz ein recht gutes 4G-Signal.
Peer wartete schon bei WhatsApp auf sie.
»Wie geht’s dir?«, fragte er.
»Beschissen. Ich fühle mich zerrissen und deplatziert. Ich glaube, ich hau hier ab.«
»Wohin?«
»Na, zurück.«
»Aber wo willst du wohnen? Du hast gesagt, dein Vater ist Alkoholiker und aggressiv. Zu dem kannst du doch nicht, oder?«
Maja zögerte mit ihrer Antwort.
Ein wenig hatte sie gehofft, dass Peer ihr anbieten würde, zu ihm zu kommen. Peer war älter als sie, dreiundzwanzig, und obwohl sie einander noch nie gesehen hatten und sich lediglich von WhatsApp kannten, spürte Maja eine große Zuneigung und vertraute ihm. Peer vermochte so sensibel mit Worten umzugehen, dass sie keinen Zweifel daran hatte, es mit einem ehrlichen Menschen zu tun zu haben.
»Nein, zu dem kann ich nicht … unter anderem sind wir ja vor dem geflohen … Im Moment kann ich nirgends hin … keine meiner besten Freundinnen kann mich verstecken, da würde ich sofort auffliegen … Ach, ich weiß auch nicht. Wie ging es denn dir kurz nach deinem Umzug?«
Maja hatte Peer in einer dieser Whatsapp-Gruppen kennengelernt, von denen es zu jedem Thema Dutzende gab. Als klar war, dass ihre Mama auf jeden Fall mit ihr nach Feldberg ziehen würde, ganz egal, wie sehr Maja sich dagegen zur Wehr setzte, hatte sie in ihrer Verzweiflung nach einer Gruppe gesucht, die sich mit dem Thema Umzug beschäftigte. Bei den meisten ging es um eher praktische Dinge. Wo bekomme ich einen Möbelwagen her, was kostet das, wo melde ich mich an und ab, was gibt’s beim Mietvertrag zu beachten.
In dieser einen Gruppe war ihr dann Peer aufgefallen, der darüber schrieb, wie einsam und fremd er sich nach seinem Umzug gefühlt habe und wie wichtig es sei, am neuen Wohnort Kontakte zu knüpfen. Er gab Tipps, wie das am besten funktionierte, gerade außerhalb der Schule. Dabei schrieb er zudem grammatikalisch korrekt, was echt selten geworden war, keinen Jugendlichen interessierte bei WhatsApp die Rechtschreibung. Maja selbst las aber sehr viel, deshalb war sie empfindlich, was schlechtes Deutsch oder Denglisch betraf. Zudem war Peer humorvoll und voller Gefühl.
»Beschissen, genau wie dir«, antwortete er. »Und leider muss ich dir sagen, dass es auch noch eine ganze Weile so bleiben wird.«
»Danke für die aufbauenden Worte …«
»Hey, ich habe dir versprochen, immer ehrlich zu dir zu sein. Aber vielleicht kann ich dich ja mit Träumereien ein wenig aufbauen. Mit deiner Zukunft, die bestimmt ganz anders aussehen und nicht in Feldberg stattfinden wird. Das Leben besteht aus Höhen und Tiefen, nichts und niemand kann daran etwas ändern, man muss nur die Kraft haben, die Tiefen durchzustehen, dann wird es irgendwann auch wieder besser. Richtigen Durchblick hast du nur aus großen Höhen.«
»Ich wünschte, du wärst hier bei mir.«
»Warum wünschst du dir das?«
»Weil … weil ich glaube, wir sind irgendwie seelenverwandt …«
Diesmal ließ Peer sich Zeit mit einer Antwort, und Maja befürchtete schon, ihn mit ihrer romantischen Art erschreckt zu haben.
»Das ist ein sehr, sehr großes Kompliment für mich, weißt du das? So etwas hat noch nie jemand zu mir gesagt. Das ist so schön! Vor allem, weil es mir mit dir ebenso geht.«
Ihre Finger flogen nur so über die Handytastatur.
»Wirklich?«
»Wirklich!!!«
»Du rettest mir gerade das Leben.«
»Und du machst mich gerade sehr glücklich … Leider muss ich Schluss machen, mein Chef kommt gleich aus der Mittagspause zurück.«
»Okay, bis bald, ja!?«
»Bis bald … Soulmate.«
Und dann war er fort.
Minutenlang hockte Maja auf der kalten Bank und starrte das eine Wort an.
Soulmate.
Mit ihrem Daumen streichelte sie über den glatten Rand des Smartphones und stellte sich vor, es wäre Peer, den sie streichelte.
Es fühlte sich so an, als kennten sie sich bereits ewig. Diese tiefe Verbundenheit, das war doch nicht normal. Sie konnte sich schon jetzt nicht mehr vorstellen, wie es sein würde, nicht mit ihm zu schreiben. Lag das nur an ihrem emotionalen Ausnahmezustand aufgrund des Umzugs?
Nein, das war mehr.
Konnte man in einen Menschen verliebt sein, den man noch nie getroffen hatte?
Mit diesen Gedanken, die allen Raum in Kopf und Körper einnahmen, verließ Maja den Friedhof und machte sich auf den Weg zu dem Haus, das niemals ihr Zuhause werden würde.
Schon von Weitem sah sie einen weiteren Umzugstransporter. Ihre Mutter unterhielt sich mit einem Mann, der die Arbeitskleidung des Umzugsunternehmens trug. Ein weiterer trug Kartons ins Haus. Die beiden hatten ihnen schon beim Beladen der Wagen geholfen.
Flirtete ihre Mutter etwa mit dem einen?
Das durfte doch nicht wahr sein!
»Maja, da bist du ja! Endlich sind unsere restlichen Möbel angekommen. Vielleicht kannst du uns helfen, alles reinzutragen. Die netten Herren müssen nämlich in einer Stunde weiter und nehmen dann gleich beide Transporter mit.«
»Klar, muss nur schnell aufs Klo«, sagte Maja und verschwand im Haus.
Im Bad steckte sie sich die EarPods ins Ohr und drehte die Musik auf.
Der Umzug war schließlich nicht ihr Ding.