5 .
S eit einer halben Stunde warteten Jan und Rica im Polizeipräsidium von Taubenheim auf Kommissar Ludovic. Der sei unterwegs, hatte man ihnen gesagt, also blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich in Geduld zu fassen – was nicht gerade zu Jans Königsdisziplinen gehörte.
Er hatte einmal auf eine Frau gewartet, und die war erschossen worden. Danach war sein Leben nicht mehr dasselbe gewesen, und er hatte sich gewünscht, an ihrer statt in den Kugelhagel gelaufen zu sein. Diese Wünsche hatte er lange hinter sich gelassen, heute lebte er gern, aber Jan wusste, die Saat für seine Ruhe- und Rastlosigkeit war damals gesät worden und gut gediehen auf einem mit Selbstmitleid und Vorwürfen gedüngten Acker.
Zehn Minuten hielt er es auf der harten Holzbank im Foyer des Präsidiums aus, dann schlug er vor, draußen auf dem Parkplatz zu warten.
Rica folgte ihm hinaus. »Kein guter Ort für dich, nicht wahr?«, sagte sie.
Jan atmete tief ein und aus. Sein erster Reflex war es, diese Bemerkung abzutun, aber er hielt kurz inne, dachte darüber nach und kam zu dem Ergebnis, dass seine Frau wie so oft recht hatte. Ja, es machte etwas mit ihm, in Polizeigebäuden darauf warten zu müssen, Fragen stellen zu dürfen.
»Kann schon sein«, sagte er.
Rica war klug und empathisch genug, nicht weiter in ihn zu dringen. Stattdessen rieb sie sich über die Oberarme und sagte: »Was muss ich tun, damit du rübergehst und mir einen heißen Kaffee aus der Bäckerei holst?«
»Mich küssen.«
Das tat sie. Also überquerte Jan die Straße und betrat die Bäckerei. Darin roch es ganz wunderbar nach Backwaren, und Jan spürte Hunger. Er kaufte zwei Coffee to go und zwei Schokoladendonuts, bezahlte und ging wieder zu Rica hinüber.
Im Stehen nahmen sie ihr zweites Frühstück ein.
Kaum hatte Jan den Donut aufgegessen, fuhren zwei Autos auf den Parkplatz. Aus dem ersten Wagen stieg ein circa dreißig Jahre alter Mann, groß und schlank, das Haar auf wenige Millimeter heruntergeschoren. Er trug eng sitzende Jeans, eine gefütterte Jacke und abgewetzte blaue Sneakers.
Aus dem zweiten Wagen stieg King Arthur. Wie immer im perfekt sitzenden Anzug, mit glänzenden Schuhen und einem Regenmantel über dem Arm.
Jan spürte, dass er innerlich verkrampfte. Er war nicht darauf vorbereitet, hier auf König zu treffen.
»Sieh an«, sagte Arthur König. »Schon so weit gekommen, die Privatermittler.«
Das letzte Wort sprach er mit einem sarkastischen Unterton aus. Jan nahm sich vor, ihn zu ignorieren, wusste aber, dass es ihm nicht gelingen würde.
»Kommissar Ludovic?«, fragte er und sah den Mann an.
Schon beim ersten Augenkontakt stellte Jan fest, dass der unter Stress stand.
Er wollte sich vorstellen, doch King Arthur kam ihm zuvor.
»Das sind die Privatschnüffler, von denen ich Ihnen erzählt habe.«
Jan stellte sich dennoch vor und erklärte, dass Rica und er für die Eidingers im Fall ihrer verstorbenen Tochter ermittelten.
»Sie ermitteln hier gar nichts, Kantzius«, sagte König.
Ludovic warf seinem Kollegen einen schwer zu deutenden Blick zu und fixierte dann wieder Jan.
»Kein Kommentar«, sagte Ludovic.
»Es würde den Eltern aber sehr helfen«, entgegnete Jan.
»Die Polizei kümmert sich um den Fall. Mehr Hilfe ist nicht notwendig.«
»Würden Sie mir dennoch ein paar Fragen beantworten?«
König trat einen Schritt vor. »Sagen Sie mal, Kantzius, hören Sie schwer? Wir wollen Ihre Hilfe nicht, die Familie Eidinger auch nicht. Fahren Sie nach Hause … mit Ihrer Frau.«
Das letzte Wort sprach König so aus, als stünde es in Anführungszeichen.
Jan drängte seinen Ärger zurück. »Ich habe von Martin Eidinger den Auftrag …«, begann er, wurde aber durch eine Handbewegung Ludovics gestoppt.
»Ich darf Ihnen von Herrn Eidinger ausrichten, dass er Ihre Hilfe nicht länger benötigt.«
»Das muss er mir schon selbst sagen.«
»Muss er nicht und wird er nicht. Lassen Sie den Mann in Ruhe!«, sagte Arthur König.
»Das könnte ich, wenn ich wüsste, dass Sie Ihren Job ganz sicher gut machen.«
Beide traten zugleich einen Schritt aufeinander zu, sodass sie unmittelbar voreinander standen. Jan konnte Königs teures Aftershave riechen und dessen Atem, der nach Pfefferminz roch. Wäre Jan nicht einen Kopf größer, ihre Nasenspitzen hätten sich berührt.
»Wenn Sie die Ermittlungen behindern, lasse ich Sie festnehmen«, zischte König.
»Wenn du so arbeitest wie früher, behinderst du dich selbst bei den Ermittlungen«, entgegnete Jan.
»Hey, hey, hey!« Ludovic ging dazwischen und schob sie auseinander. »Tragen Sie Ihre Differenzen woanders aus. Das hier ist mein Zuständigkeitsbereich, und ich entscheide, wie es läuft. Herr und Frau Kantzius, ich kann und werde Sie von nichts abhalten, muss Sie aber bitten, Familie Eidinger in Ruhe zu lassen. Man hat mir gegenüber deutlich gemacht, dass man Ihre Hilfe nicht länger will.«
Jan drehte König den Rücken zu. »Wenn das so ist, akzeptiere ich das natürlich. Können Sie und ich trotzdem miteinander sprechen … unter vier Augen?«
Ludovic schüttelte den Kopf. »Dafür besteht keine Notwendigkeit. Bitte entschuldigen Sie mich, ich habe zu tun.«
Damit wandte er sich ab und ging die Stufen zum Präsidium hinauf.
König folgte ihm. Auf der letzten Stufe drehte er sich um und warf Jan ein spöttisches Lächeln zu.
»Was war denn das?«, fragte Rica, nachdem die beiden verschwunden waren. »Die Luft zwischen euch beiden hat ja geradezu geknistert. Ich dachte, ihr geht aufeinander los.«
Jan brauchte einen Moment, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte. »Lass uns abhauen«, sagte er und steuerte auf ihren Defender zu. »Ich will mit Eidinger reden.«
Rica hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. »Sagst du mir bitte, was los ist?«
»Bei unserem letzten Gespräch war König nicht gerade höflich.«
»Was heißt das?«
»Es betrifft dich, und ich wiederhole es ganz sicher nicht.«
»Aha.«
Sie erreichten den Defender und stiegen ein.
»Warum lässt du dich von so einem eitlen Wichtigtuer ärgern?«, sagte Rica. »Der kann über mich sagen, was er will, es berührt mich nicht im Geringsten.«
»Mich schon«, presste Jan zwischen den Zähnen hervor, startete den Motor und knüppelte den Gang hinein.
»Sollte es aber nicht. Was meinst du, denkt König, wenn er in den Spiegel blickt?«
»Na, was wohl. Toll sehe ich aus.«
»Ja, ganz genau. Weil er nur über das nachdenkt, was er tatsächlich sieht. Zu etwas anderem ist er nicht in der Lage. Ihn beschäftigt nur der Schein, nicht das Sein. Wenn du in den Spiegel schaust, denkst du über dich nach, was du glaubst und fühlst. Wie sieht es in mir aus, was geht hinter dem Äußeren vor? Du reflektierst dich. Und das macht dich zu einem Menschen, der tausendmal klüger ist als jemand wie König.« Rica legte ihm eine Hand auf den Arm. »Einer wie er kann mir nichts anhaben. Vergiss ihn einfach.«
Über diese Worte hätte Jan gern in Ruhe nachgedacht, aber dafür fehlte ihnen die Zeit, denn er bog bereits in die Straße ab, in der die Eidingers lebten. Jan spürte aber, wie die Worte seiner Frau sein brennendes Inneres bereits besänftigten.
Vor dem Haus der Eidingers parkte ein Streifenwagen mit zwei Beamten darin.
»Und einer wie er hält uns nicht davon ab, zu tun, was wir tun wollen«, sagte Jan grimmig mit Blick auf den Streifenwagen, während der an der Gartenstraße vorbeirollte.
»Du vorne, ich hinten?«, fragte er und parkte den Defender fünfzig Meter weiter.
»Alles klar!«
Sie schlugen die Handflächen gegeneinander, dass es ordentlich klatschte, und stiegen aus.
Rica marschierte zur Gartenstraße zurück und dort schnurstracks auf den Streifenwagen zu. Jan hingegen sprang über die Zäune der Nachbarn, um von hinten an das Haus der Eidingers heranzukommen.
Rica näherte sich dem Streifenwagen. Natürlich konnten die beiden Beamten sie im Rückspiegel sehen. Sie nahm ein wenig Schwung, um auf die Kofferraumklappe zu kommen, und setzte sich drauf.
Augenblicklich sprangen die Türen auf, und die Polizisten stiegen aus.
»Hey, was soll der Mist? Runter vom Wagen!«, sagte der bullige Typ mit Händen wie Baggerschaufeln, der Rica zuerst erreichte.
»Wissen Sie, wie ich das sehe mit der Diskriminierung?«
»Wie bitte?«
»So, wie ich aussehe, kann ich nicht einmal die Straße hinuntergehen, ohne von der Polizei kontrolliert zu werden …«
»Reden Sie keinen Scheiß, wir kontrollieren Sie doch gar nicht. Sie sollen von dem Auto runterkommen.«
»Genau das meine ich!«, sagte Rica. »Ich habe braune Haut, und Ihnen fällt nichts Besseres ein, als von Scheiße zu reden.«
»Häh?«
»Diese Assoziation zwischen Braun und Scheiße … Machen Sie das absichtlich? Können Sie sich auch nur im Ansatz vorstellen, wie ich mich dabei fühle?«
»Wollen Sie mich verarschen!«
»Schon wieder! Meine Hautfarbe setzt bei Ihnen ein Fäkal- beziehungsweise Analvokabular frei, um mich zu demütigen, und Sie sind sich dessen wahrscheinlich nicht einmal bewusst, weil Sie von Kindesbeinen an von dieser Art zu denken indoktriniert wurden. Sie tun mir wirklich leid.«
Jetzt sagte der bullige Polizist nichts mehr, stattdessen suchte er mit verzweifeltem Blick Hilfe bei seinem wesentlich jüngeren Kollegen.
Der sah wirklich nett aus, fand Rica.
»Hören Sie«, sagte der. »Keine Ahnung, was das soll, aber kommen Sie bitte von dem Wagen runter, sonst nehmen wir Sie fest.«
»Sie wollen mich festnehmen? Soll ich das jetzt als sexuelle Anspielung verstehen? Hören Sie, nur weil ich braune Haut habe, muss ich nicht automatisch Interesse an Prostitution haben.«
»Jetzt reicht’s!«, sagte der Ältere und wollte nach Rica greifen.
Sie ließ sich unter seinem Griff hinweg vom Kofferraum gleiten, huschte zwischen den beiden Beamten durch und ging rückwärts von ihnen weg, um ihr Augenmerk auf sich zu lenken – und fort vom Haus der Eidingers.
»Da drüben, in der Hecke, da versteckt sich mein Freund mit einer Videokamera. Wir laden das alles in Echtzeit bei YouTube hoch. Diesen ganzen rassistischen Mist.«
»Hören Sie, niemand ist hier rassistisch. Wir haben Sie nur angesprochen, weil Sie sich auf den Streifenwagen gesetzt haben.«
In diesem Moment trat im Rücken der Beamten Jan aus dem Garten der Eidingers.
»Meine Herren!«, rief er ihnen zu.
Die Beamten fuhren herum.
»Sie machen einen fantastischen Job, vielen Dank für Ihre Hilfe. Ich kümmere mich um meine Tochter.«
Jan ging an ihnen vorbei, nahm Rica bei der Hand und zog sie mit sich. Dabei wandte er sich noch einmal an die Beamten. »Meine Empfehlung an Kommissar Ludovic!«
Die konsternierten Blicke der Polizisten waren Gold wert, ein bisschen taten sie Rica auch leid. Es war so schwierig geworden, gut auszusehen, wenn jemand die Rassismuskarte zog. Man konnte unschuldig sein, irgendetwas blieb immer hängen.
»Deine Tochter?«, sagte Rica belustigt. »Endlich siehst du ein, wie alt du neben mir wirkst.«
»Damit habe ich kein Problem. Du wirst gleich ein paar Jahre in meine Richtung springen, wenn ich dir erzähle, was ich von Eidinger erfahren habe.«
»Er hat mit dir gesprochen?«
»Nur kurz, an der Terrassentür. Hereinlassen wollte er mich nicht. König hat ihn wohl ganz schön unter Druck gesetzt, nicht mit uns zu reden. Aber diese eine Sache konnte er nicht für sich behalten.«
»Was hat er gesagt?«
»Das Mädchen von der Autobahn … die Leiche in der Rechtsmedizin, die Eidinger identifizieren sollte … das ist nicht seine Tochter.«
»Was?«
»Du hörst schon richtig. Was auch immer mit Leila Eidinger passiert ist, sie wurde nicht auf der Autobahn überfahren.«