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D ie Residenz Waldesruh in Bremen machte ihrem Namen keine Ehre. Der lang gestreckte, dreistöckige Neubau stand auf einem Grundstück, das sich am besten mit Brachland beschreiben ließ. Es wirkte so, als sei der Bau noch nicht allzu lange fertig und die Garten- und Landschaftsbauer erst fürs nächste Jahr bestellt. Der Wald war nur für die in Sichtweite, die gute Augen hatten.
Rica und Jan erreichten gegen elf Uhr den Parkplatz des Altenheims.
Sie waren früh aufgestanden und hatten für die Fahrt von Kassel nach Bremen bei guter Verkehrslage nur drei Stunden gebraucht. Einen Termin hatten sie nicht, denn sie wussten ja nicht einmal, wen sie in dieser Angelegenheit ansprechen sollten.
Das Atrium war großzügig und modern eingerichtet, ein riesiges Aquarium in der Mitte war der absolute Blickfang. Jan erinnerte es an den gestrigen Besuch bei den Füllkrugs. Er fragte sich, wie es der Frau jetzt ging. Und darüber hinaus, wie sie ihr Leben an der Seite ihres Mannes aushielt. Was ließ Frauen nur bei Männern bleiben, die sie schlugen, sie manipulierten, ihnen ihre Persönlichkeit nahmen? Jan hatte das nie verstanden. War es die Angst vor dem Alleinsein oder die Angst vor Vergeltung? Die allerdings konnte Jan nachvollziehen, hatte er doch am eigenen Leib erfahren, wozu gedemütigte Männer fähig waren. Solche Männer liebten nicht, sie besaßen, und ihr deformiertes Ego ließ es nicht zu, dass ihnen ihr Besitz genommen wurde. Für Jan gehörten sie in dieselbe Kategorie wie die Kaste der alten weißen Männer, die immer noch die Erde beherrschten.
An der Information angelangt, fragte Rica nach jemandem, mit dem sie in Personalangelegenheiten sprechen könnten. Die Dame mit Goldrandbrille und grellrot lackierten Nägeln sagte sofort und mit Blick auf Rica, dass sie zurzeit niemanden einstellten. Ihr Blick unter halb geschlossenen Lidern heraus ließ klar erkennen, wie sie Rica einstufte.
»Es geht um eine Beschwerde über Ihr Haus, und ich möchte jetzt sofort mit der zuständigen Person sprechen!«
Rica konnte nachdrücklich sein, wenn sie es wollte, und diese herablassende Haltung zwang sie geradezu dazu.
Die Dame verzog den Mund zu einer pikierten Schnute, telefonierte und erklärte ihnen dann den Weg zum Büro der zuständigen Mitarbeiterin.
Frau Klingworth empfing sie sofort.
Sie war ein ganz anderer Schlag Mensch als die Dame vorn am Empfang. Nicht halb so gestylt, aber doppelt so offen und herzlich.
»Ich hörte, es geht um eine Beschwerde? Wie kann ich Ihnen denn helfen? Bitte nehmen Sie doch Platz!«
In dem kleinen Büro gab es eine Sitzgruppe mit vier unbequemen Stühlen, dort ließen sie sich nieder. Rica übernahm es, Frau Klingworth über die wahren Gründe ihres Besuchs aufzuklären.
»Es tut uns leid, dass wir hier einfach unangemeldet auftauchen und uns mit dieser kleinen Notlüge Einlass verschaffen, aber es geht in diesem Fall um Leben und Tod von Bettina Füllkrug. Wenn wir sie noch finden wollen, dürfen wir keine Zeit verlieren.«
Jan beobachtete seine Frau, während sie sprach. Ihre onyxschwarzen Augen waren offen und ehrlich, so wie gestern Nacht beim Sex. Sie ließ immer die Augen offen dabei, und Jan hatte sie einmal gefragt, ob das daran lag, dass sie immer noch nicht genug vertrauen konnte. Rica hatte den Kopf geschüttelt und ihn aufgeklärt. Es liegt daran, hatte sie mit rauer Stimme gesagt, dass ich immer die Augen geschlossen hatte, als ich zum Sex gezwungen wurde. Nie wieder will ich die Augen schließen und wegschauen, nie wieder. Ich will dich ansehen dabei, weil ich einen Mann sehe, der mich wieder vertrauen lässt.
Jan musste nur daran denken, und sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Vor Liebe, Dankbarkeit und Angst. Angst davor, dass er lange nicht so vertrauenswürdig war, wie Rica glaubte. In ihm gab es Untiefen, die er selbst noch nicht ausgelotet hatte.
»Schon gut, ich verstehe Ihre Situation«, sagte Frau Klingworth und riss Jan aus seinen Gedanken. »Und natürlich erinnere ich mich an die Sache damals. Die Polizei hat mich ja dazu befragt, zum ersten Mal in meinem Leben … so etwas vergisst man nicht.«
»Wissen Sie noch, wer Sie befragt hat?«, fragte Jan.
»Nicht namentlich. Es war eine sehr junge Beamtin. Sie wollte wissen, ob die Zeugin hier gewesen sei. Datum und Zeit und so weiter.«
»Wie hieß die Bewerberin?«, hakte Jan nach.
Frau Klingworth schüttelte den Kopf. »Bedaure, das unterliegt dem Datenschutz.«
»Wurde die Frau von Ihnen eingestellt?«, fragte Rica.
»Nein. Zu dem Zeitpunkt hatten wir gerade wegen der Fertigstellung und Inbetriebnahme der Einrichtung eine Personaloffensive hinter uns. Printmedien, Flyer, Plakate, was man heute so macht, um Personal zu bekommen. Wir hatten Glück, es haben sich genug Bewerber gemeldet. Außerdem … na ja, sie passte nicht ins Profil.«
»Warum nicht?«
»Zum einen wegen ihres Alters …«
»Wie alt ist sie denn?«
»Neunundfünfzig. Die Zeit bis zum Renteneintritt ist einfach zu kurz.«
»Aber das hätten Sie doch schon den Bewerbungsunterlagen entnehmen können.«
Frau Klingworth schüttelte den Kopf. »Nein, nein, es handelte sich um eine Initiativbewerbung. Die Frau war ohne Voranmeldung und aus eigenem Antrieb hier vorstellig geworden. Sie war wohl durch die Werbekampagne auf uns aufmerksam geworden … Und es war ja auch nicht nur das Alter …«
»Sondern?«
»Die fehlende Qualifikation. Sie hatte nur einen dieser Schnellkurse in Altenpflege besucht, wie sie in Tschechien angeboten werden … ein bisschen wenig für unsere Ansprüche.«
»In Tschechien?«, fragte Jan nach.
»Ja, richtig. Sie kommt aus Tschechien.«
»Sie lebt nicht in Deutschland?«
»Soweit ich weiß, nicht. Ich meine, sie sprach einigermaßen gutes Deutsch, aber sie sagte, sie sei extra für die Bewerbung angereist.«
»Haben Sie die Adresse?«
»Wir bewahren keine Unterlagen von Personen auf, die wir nicht eingestellt haben. Aber selbst wenn ich sie hätte, dürfte ich sie Ihnen nicht aushändigen. So etwas unterliegt ebenfalls dem Datenschutz … und Sie sind ja nicht von der Polizei.«
»Aber wir versuchen, der Familie Füllkrug zu helfen, ihre Tochter zurückzubekommen«, wandte Jan ein.
»Tut mir leid, da bin ich an die Vorschriften gebunden. Und wie gesagt, wir haben die Adresse sowieso nicht.«
Rica und Jan bedankten sich bei Frau Klingworth und wollten aufbrechen, als die Leiterin der Personalabteilung selbst eine Frage stellte: »Sie beiden sind ein ungewöhnliches Paar … Darf ich fragen, wie Sie sich kennengelernt haben?«
»Was meinen Sie mit ungewöhnlich?«, fragte Rica.
»Verstehen Sie mich nicht falsch, es geht mir nicht um Ihr Äußeres. Aber sie haben sich als Ehepaar vorgestellt, zugleich aber auch als Privatermittler … Tut mir leid, ich bin zu neugierig.«
»Nein, nein, schon gut«, sagte Rica und berührte die wesentlich ältere Frau am Unterarm. »Jan war Polizist, als wir uns kennenlernten. Er hat mich vor einer Menschenhändler-Organisation gerettet, die Frauen wie mich weltweit verkauft und zur Prostitution zwingt.«
Bei dieser ehrlichen Auskunft musste nicht nur Frau Klingworth schlucken. Jan wunderte sich über Ricas brutale Offenheit einer Fremden gegenüber. Dieser Fall schien etwas mit Rica zu machen. Er musste aufpassen, wusste er doch selbst am besten, was passieren konnte, wenn man einen gewissen Abstand nicht mehr wahrte.
»Er hat mir das Leben gerettet«, fuhr Rica fort. »Und das nutze ich zusammen mit Jan dazu, gegen diese Art von Sklaverei zu kämpfen.«
Damit wandte Rica sich ab und wollte das Büro verlassen.
»Moment«, rief Frau Klingworth. »Toma. Die Bewerberin heißt Romina Toma. Ich kann mich so gut an den Namen erinnern, weil er so schön klingt, finden Sie nicht?«
»Das tut er«, antwortete Rica. »Aber Klingworth klingt noch viel schöner. Vielen Dank für Ihre Hilfe.«
»Die Adresse habe ich wirklich nicht, aber vielleicht hilft es ja, das arme Mädchen zu finden. Viel Glück.«
Sie verließen das Altenheim.
»Tschechien«, sagte Jan, kaum dass sie bei ihrem Wagen angelangt waren. »Auffällige Fahrzeuge an der Tankstelle in Taubenheim, wobei man sich dort mit dem Kennzeichen getäuscht haben könnte. Der Rentner auf dem Campingplatz hat Ansgar Füllkrug tschechische Karten studieren sehen. Eine Zeugin, die für eine Bewerbung aus Tschechien angereist ist und eine entscheidende Aussage im Fall Bettina Füllkrug macht.«
»Überall Hinweise, die nach Osteuropa führen«, fasste Rica zusammen.
»Ja, und Füllkrug hat das auch entdeckt und dort irgendetwas oder irgendjemanden gesucht. Vielleicht den Aufenthaltsort seiner Schwester.«
»Fühlt sich nach einer heißen Spur an.«
»Wir brauchen unbedingt die Adresse dieser Zeugin. Die Polizei muss sie ja haben.«
Jan sah auf seine Armbanduhr. »In einer Stunde treffen wir uns mit Olav. Wir sollten ihn noch einmal anrufen, vielleicht kann er bis dahin die Adresse herausfinden.«
Sie stiegen ein. Rica zog ihr Handy hervor.
Olav nahm sofort ab.
»Ich hab dich auf Lautsprecher gestellt«, sagte Rica nach der Begrüßung. »Jan sitzt neben mir.«
»Ihr könnt es wohl nicht abwarten. Oder ist euch etwas dazwischengekommen?«
»Nein, nein, es bleibt bei dem Essen, wir freuen uns schon darauf. Ich rufe aus folgendem Grund an.«
Rica erklärte Olav, was sie gerade erfahren hatten.
»Wir brauchen unbedingt die Wohnadresse dieser Zeugin. Kannst du uns weiterhelfen?«
»Rica, Liebe meines Lebens«, witzelte Olav. »Du weißt, ich tue alles für dich, auch wenn ich dafür das Gesetz übertreten muss. Ich schau sofort nach.«
»Du bist ein Schatz!«
»Und noch immer Single. Nur für den Fall, dass Jan dir zu langweilig wird.«
»Hey!«, mischte sich Jan ein. »Darf ich dich daran erinnern, dass ich an der Rettung deines knochigen Arsches nicht ganz unbeteiligt war?«
»Ach herrje, er ist empfindlich. Ich mach lieber Schluss.«
Sie verabschiedeten sich voneinander.
Einen Moment saßen Jan und Rica schweigend nebeneinander.
»Ich glaube, ich weiß, was du denkst«, sagte Jan schließlich.
»Ja, wahrscheinlich.«
»Macht es dir Angst?«
»Wegen der Mädchen, ja. Nicht wegen mir. Wenn es hier um Menschenhandel geht, sehe ich keine guten Chancen, dass wir Leila oder Bettina finden.«
»Du würdest es mir aber sagen, wenn du in dieser Sache lieber nicht an der Front mitmischen willst, oder?« Jan sah seine Frau an, suchte nach Emotionen in ihren Augen, doch diesmal ließ sie ihn an der schwarzen Lackschicht darauf abprallen.
»Es sind doch genau diese Fälle, für die ich arbeite.« Sie klang fast ein bisschen wütend.
»Ich meine ja nur … ich könnte es verstehen.«
»Keine Chance. Ich bin dabei.«
Ein kurzer Blickkontakt genügte, um ihr zu zeigen, wie stolz Jan auf seine Frau war. Worte brauchte es dafür nicht.
»Und jetzt sehe ich nach, was unsere einsamen Jungs machen«, sagte Rica und ging mit ihrem Handy online.
»Ach, schau an, drei haben geantwortet.«
Rica zeigte ihm das Display. Die Antworten von Lostin-Space, Ghostwhisperer und Einsameeer ähnelten sich. Sie zeigten Interesse und Mitleid, boten Tipps und Hilfe an, wobei LostinSpace und Ghostwhisperer ganz offensiv nach dem Alter und Wohnort von Rica fragten. Einsameeer tat das nicht. Seine Antwort war zurückhaltender und auch von der Art her anders. Satzbau und Grammatik stimmten, Groß- und Kleinschreibung auch.
Rica schrieb ihnen zurück. Gab sich naiv und offenherzig, hielt aber mit ihrem Wohnort hinter dem Berg, versuchte stattdessen, herauszufinden, woher ihre Gesprächspartner kamen.
»Sobald ich Zeit habe, finde ich ihre IP -Adressen heraus. Vielleicht kann Olav uns dann noch einmal helfen mit den Wohnorten und Handynummern«, sagte sie schließlich.
»Es könnte sich lohnen. Immerhin hatten sie Kontakt zu Leila Eidinger«, meinte Jan. »Aber was ist mit Ziel18? Warum antwortet er dir nicht?«
»Keine Ahnung. Ich habe noch eine andere Idee. Bei Wobinich laufen eine Menge Unterhaltungen zum Thema Umzug, ich hab hier zehn weitere Namen, die ständig mit unseren vier Kandidaten kommuniziert haben. Klingt alles nach Jugendlichen, die Probleme mit ihrem Umzug haben. Vielleicht lohnt es sich, diese im Auge zu behalten. Hier, bei Wobinich und auf den gängigen Suchseiten bei Facebook wie zum Beispiel Amber alert.«
»Du meinst, falls noch jemand aus diesem Personenkreis verschwindet?«
Rica nickte. »Schaden kann es nicht.«