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J ördis Fischer hatte die furchtbarste Nacht ihres Lebens hinter sich.
Nachdem Maja in ihrer entsetzlichen und ungerechten Wut das Haus verlassen hatte, war die Zeit für Jördis stehen geblieben. Minutenlang stand sie einfach nur da, am ganzen Körper zitternd, den Blick auf die Scherben am Boden gerichtet, unfähig, irgendetwas zu tun. Erst nach einer Viertelstunde hatte sie sich aus dieser Schockstarre befreien können. Sie war vors Haus gelaufen, um nach ihrer Tochter Ausschau zu halten, hatte sie aber nicht finden können. Mehrere Anrufe auf Majas Handy waren unbeantwortet geblieben. Schließlich hatte Jördis sich angezogen und auf die Suche gemacht.
Vergeblich.
Maja war nirgends zu finden gewesen.
In diesen schlimmen Stunden hatte Jördis erst so richtig begriffen, was es bedeutete, an einem fremden Ort zu leben. Da waren keine Menschen, die sie um Hilfe bitten konnte. Keine Freunde, keine Verwandten, keine Eltern. Dieses Sicherheitsnetz aus Menschen hatte sie hinter sich gelassen, ohne darüber nachzudenken, wie wichtig es war.
Gegen zwei Uhr nachts war Jördis erschöpft ins Haus zurückgekehrt. In ein stilles, kaltes, lebloses Haus, das ihr wie ein Grab vorgekommen war. Sie war in ihrer Kleidung auf der Couch eingeschlafen und erst gegen acht erwacht. Nach einer Dusche und Dutzenden vergeblichen Versuchen, ihre Tochter zu erreichen, machte Jördis Fischer sich auf den Weg zur Schule.
Sie war sich sicher gewesen, ihre Tochter dort anzutreffen.
Doch Maja war nicht da. Niemand hatte sie gesehen.
Die Angst, die Jördis in diesem Moment gepackt hatte, war unbeschreiblich, und weil sie sich nicht mehr anders zu helfen wusste, entschied sie, zur Polizei zu gehen. Der Fußweg von der Schule zu der kleinen Polizeiwache in einem Anbau neben der freiwilligen Feuerwehr dauerte zwanzig Minuten.
Verschwitzt, verängstigt und voller Schuldgefühle trat sie vor den diensthabenden Beamten. Ein beleibter, gemütlich wirkender Mann, dessen Ausstrahlung allein schon die Seele beruhigen konnte, aber bei Jördis funktionierte es an diesem Morgen nicht.
»Meine Tochter … sie ist verschwunden.«
»Was ist denn passiert?«, fragte der Beamte.
»Sie hat gestern Abend das Haus verlassen und ist nicht zurückgekommen … Ich war gerade schon in der Schule, aber dort ist sie auch nicht. Können Sie nach ihr suchen? Bitte!«
»Sagen Sie mir doch erst einmal Ihren Namen«, bat der Beamte und nahm einen Kugelschreiber zur Hand.
»Jördis Fischer. Meine Tochter heißt Maja.«
»Ach, Sie sind das. Sie sind doch erst vor Kurzem nach Feldberg gezogen, nicht wahr?«
Es sollte Jördis nicht wundern, dass in einem solchen Kaff jeder alles wusste, tat es aber trotzdem.
»Ja, sind wir.«
»Und Ihre Tochter, Maja, hat sie ein Handy?«
»Natürlich, und ich habe oft genug versucht, sie zu erreichen, aber sie ist nicht rangegangen.«
»Wann hat Maja gestern Abend das Haus verlassen?«
»So gegen zwanzig Uhr.«
»Wohin wollte Maja?«
»Das … das weiß ich nicht. Wir hatten einen kleinen Streit.«
Der freundliche Beamte sah Jördis an, der Kugelschreiber kam zur Ruhe. »Einen Streit?«
Jördis nickte und presste die Lippen zusammen, um nicht in Tränen auszubrechen.
»Erzählen Sie mir davon«, forderte der Polizist sie auf, und weil Jördis unbedingt mit jemandem reden musste, ganz egal mit wem, und weil der Mann sie so einfühlsam ansah, platzte es aus ihr heraus, und sie erzählte ihm von ihren Problemen, die mit dem Umzug nach Feldberg nicht besser, sondern dramatischer geworden waren. Die Vorgeschichte mit ihrem prügelnden Ex-Mann umriss sie dabei nur kurz.
»Haben Sie Majas Vater angerufen?«, fragte der Beamte schließlich.
»Nein, aber da ist Maja nicht. Bitte, können Sie nicht nach ihr suchen? Ich bin mir sicher, ihr ist etwas passiert, sonst wäre sie doch wieder nach Hause gekommen.«
Der Beamte versuchte sich an einem zuversichtlichen Lächeln.
»Machen Sie sich keine Sorgen. Ihrer Tochter geht es bestimmt gut. Sie ist wütend und verwirrt, das kann man verstehen, wahrscheinlich braucht sie nur ein wenig Abstand und ist irgendwo untergekrochen. Bei Freunden vielleicht. Ich denke, bevor wir es offiziell machen, sollten Sie erst einmal überall herumtelefonieren.«