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D er Mann, dem sie nun bereits seit einer Viertelstunde folgten, war in dieser finsteren Nacht beinahe unsichtbar, aber er machte so viele Geräusche, dass es Jan und Rica nicht schwerfiel, an ihm dranzubleiben.
Trockene Zweige brachen unter seinen Füßen, von ihm losgetretene Steine kullerten bergab, mitunter stöhnte er auf oder gab dumpfe Schreie voller Wut von sich.
War er sich seiner Sache so sicher oder einfach nur untrainiert und dumm?
Sein Fluchtweg war alles andere als einfach. Es ging beständig bergan, mitunter sogar steil. Auf der Wiese war es durch das feuchte Gras rutschig gewesen, im Wald bargen tief hängende Äste sowie Löcher und aus dem Boden ragende Wurzeln Gefahren.
Wahrscheinlich, so nahm Jan an, war der Mann nach dem Schuss, der in seinen Augen tödliche Folgen gehabt hatte, kopflos davongelaufen, ohne darüber nachzudenken, wohin er wollte. Irgendwann würde er das aber tun, und bis dahin mussten sie an ihm dranbleiben.
Rica bewegte sich nahezu geräuschlos mal hinter, mal neben ihm und schien überhaupt nicht aus der Puste zu kommen. Jan spürte die Anstrengung deutlich und schwitzte. Sein Shirt klebte ihm bereits am Rücken. Die Wunde an der Wange blutete zum Glück nicht mehr.
Als sie die Kuppe des Berges erreichten, an dessen Flanke sie hinaufgestiegen waren, riss die Wolkendecke auf, und der Mond schien überraschend hell durch die Lücke.
Jan ließ sich sofort zu Boden fallen. Nur einen Lidschlag später landete Rica neben ihm.
Zum ersten Mal konnten sie den Schützen wirklich sehen.
Er stand hangabwärts, den Oberkörper halb zu ihnen gedreht. Offenbar war er von dem plötzlichen Licht ebenso überrascht wie sie. Seine Kleidung war dunkel, auf dem Kopf trug er eine schwarze Mütze.
In der rechten Hand hielt er ein Gewehr, das dem Jagdgewehr glich, mit dem Romina Toma ihnen gedroht hatte. Der Mann, klein, breit, geradezu bullig, starrte in ihre Richtung.
Jan und Rica pressten sich flach gegen den Boden.
Die Sekunden verrannen unerträglich langsam, doch schließlich hob der Mann das Gewehr an und drückte es in Schussposition gegen seine Schulter. Er zielte aber nicht genau in ihre Richtung, sondern rechts vorbei. Bestimmt eine Minute verharrte er in dieser Position. Dann nahm er das Gewehr herunter und setzte seinen Weg fort.
Jan und Rica verharrten, bis sie ihn nicht mehr sehen konnten. Erst dann erhoben sie sich aus dem feuchten Laub und verfolgten den Schützen. Sie sprachen nicht mehr, verständigten sich nur noch mit Blicken und blieben so weit zurück, dass sie den Mann nicht noch ein zweites Mal zu Gesicht bekamen.
Immer wieder brachen dessen Geräusche ab, sodass Jan und Rica still abwarteten. Jan stellte sich vor, wie der Mann abermals mit dem Gewehr an der Schulter dastand und in die Dunkelheit zielte.
So verging eine halbe Stunde, wie Jan auf seiner Armbanduhr mit Leuchtziffern mitverfolgte.
Jan war davon ausgegangen, dass der Schütze einen Weg zu einer Straße oder zum nächsten Dorf einschlagen würde. Doch sein Ziel war eine Hütte auf einer kleinen Lichtung mitten im Wald.
Ein Auto parkte etwas abseits in den Büschen.
In der Hütte war kein Licht zu sehen.
Der Mann verschwamm mit der schwarzen Außenwand aus Holz, und das wenige Mondlicht reichte gerade, um seine Umrisse erkennen zu können. Wieder verharrte er reglos, die Waffe am langen Arm. Nachdem er zwei Minuten so in die Dunkelheit gestarrt hatte, betrat er die Hütte. Kurz darauf flammte hinter einem der Fenster warmes gelbes Licht auf.
Jan und Rica gingen hinter einem Busch in Deckung.
»Er lebt hier?«, fragte Rica.
»Zumindest hat er hier seinen Unterschlupf. Echt merkwürdig, das alles.«
»Was machen wir jetzt?«
»Wir warten eine Weile, bis er sich in Sicherheit wiegt, dann schauen wir nach, was er da drinnen treibt.«
»Und wenn er sich schlafen legt?«
»Gute Frage. Keine Ahnung. Es ist zu kalt, wir können nicht den Rest der Nacht auf der Lauer liegen.«
Jan musste nicht weiter ausführen, was das bedeutete, Rica verstand es auch so.
Sie ließen dem Mann fünf Minuten – zum Glück.
Denn als sie gerade aufstehen und zur Hütte schleichen wollten, bemerkten sie eine dunkle Gestalt, die sich aus dem schwarzen Bereich unter dem hinteren Dachvorsprung löste und mit dem Gewehr in der Hand Richtung Tür ging.
Er hatte also nur das Licht angemacht und sich dann draußen verborgen für den Fall, dass er doch verfolgt wurde. Schlauer Fuchs! Wären Jan und Rica sofort zur Hütte gegangen, hätte er sie wie auf dem Schießstand erschießen können.
Jetzt betrat er die Hütte abermals, und sie konnten hören, wie er die Tür hinter sich schloss.
Ein wenig saß ihnen der Schock noch in den Gliedern, sodass sie abermals fünf Minuten warteten, bis sie es wagten, hinunterzuschleichen.
Laub raschelte unter ihren Schuhen. Zum Glück versteckte sich der Mond wieder hinter Wolken.
Jan erreichte die Hütte zuerst und drückte sich neben dem erleuchteten Fenster an die Wand. Rica positionierte sich hinter ihm.
Er gab ihr ein Zeichen, durch das Fenster in die Hütte zu schauen.
Rica ging in die Hocke, schob sich an ihm vorbei und näherte sich der unteren Kante des Fensters in Zeitlupe, bis sie gerade so drüberschauen konnte.
Zwei Sekunden, dann tauchte sie wieder ab und kam zu Jan, drückte sich ganz dicht an ihn und flüsterte in sein Ohr:
»Er hat ein Mädchen da drinnen. Sie liegt auf einer Pritsche, das Gesicht konnte ich nicht sehen.«
»Wo ist er?«
»Weiß nicht, hab ihn nicht gesehen.«
»Shit …«
Jan dachte fieberhaft nach. Sollten sie ihn mit irgendwelchen Geräuschen aus der Hütte locken oder besser das Überraschungsmoment nutzen und die Hütte stürmen? Wenn er das Gewehr abgestellt hatte, hatten sie eine gute Chance, ihn zu überrumpeln.
»Zur Tür«, sagte Jan und schlich voran bis zur Ecke der Hütte.
Er kam nicht weit.
Kaum um die Ecke herum, drückte sich ihm der Lauf des Jagdgewehrs gegen die Brust.
»Ich bring dich um, du Sau!«, tönte es aus dem Dunkeln, und das Gewehr wurde durchgeladen.