11 .
E r hatte sie ein weiteres Mal verarscht.
Wahrscheinlich hatte er sie während der langen Verfolgung durch den Wald doch bemerkt und sich eine Strategie zurechtgelegt für den Zeitpunkt, wenn er an seiner Hütte ankam.
Jedenfalls war er nicht hineingegangen, wie Rica und Jan vermutet hatten, oder aber er war durch einen Hinterausgang wieder rausgekommen.
Und jetzt waren sie in seiner Gewalt.
»Warum meine Mutter?«, sagte der Mann und hielt weiterhin das Gewehr auf Jan gerichtet.
Jan und Rica standen dicht nebeneinander an der Hüttenwand, der Mann in circa fünf Metern Entfernung vor ihnen. Das war viel zu weit für einen Überraschungsangriff. Er würde Jan auf jeden Fall erwischen, wenn er es versuchte.
»Hören Sie bitte zu«, versuchte Jan, ihn zu beruhigen, und hob die Hände. »Es ist alles ganz anders …«
»Du hättest meiner Mutter nichts antun müssen!«, brüllte der Mann drauflos.
»Ihre Mutter?«, fragte Rica. »In dem Haus dort unten im Tal? Das waren wir nicht. Bitte, glauben Sie uns, wir haben nichts damit zu tun. Wir wollten nur mit Ihrer Mutter sprechen …«
»Ja, klar, mitten in der Nacht. Du lügst, du dreckige Schlampe. Wer hat euch geschickt? Gunther?«
»Bitte, hören Sie uns zu. Niemand hat uns geschickt, wir sind hier, weil wir …«
In diesem Moment wurde die Tür zur Hütte von innen heraus aufgestoßen.
Der Mann schwenkte das Gewehr dorthin und schoss augenblicklich.
Jan sprang vor.
In zwei mächtigen Sätzen erreichte er den Mann, bevor der auf ihn anlegen konnte. Er packte das Gewehr mit beiden Händen, um es ihm zu entreißen, aber der Mann wehrte sich, und er war stark – verdammt, war der stark.
Sie zerrten beide an dem Gewehr, dem Mann gelang es, Jan herumzuschleudern. Jan prallte gegen einen Baum, ließ aber nicht los. Er trat dem Mann gegen das rechte Knie, sodass er einknickte und sie beide zu Boden gingen. Jan lag auf ihm und presste das Gewehr Richtung Kehlkopf, doch der Mann war zu stark für ihn. Er schaffte es, Jan zur Seite zu drücken, und plötzlich war er oben. Dann tat er etwas, womit Jan nicht gerechnet hatte.
Er ließ das Gewehr los, drückte es mit einer Hand beiseite und schlug Jan mit der anderen Faust ins Gesicht. Zwei, drei wuchtige Schläge, und Jan stand kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren.
Unvermittelt verschwand das Gewicht des Mannes von seiner Brust. Gleichzeitig entriss er Jan das Gewehr, und nur eine Sekunde später blickte Jan in den Lauf.
»Verdammter Mörder«, sagte der Mann.
Im nächsten Moment schrie er auf, fuhr in einer wilden, unkontrollierten Bewegung herum und schoss.
Rica, die hinter ihm stand und ihm ihr Messer, das sie immer und überall an ihrer Wade trug, von hinten in den Arsch gestoßen hatte, wurde getroffen, schrie auf und ging zu Boden.
Bevor der Mann das Gewehr wieder auf Jan richten konnte, verpasste er ihm einen heftigen Schlag gegen die Brust.
Der Mann kippte nach hinten, Jan schüttelte ihn ab, kam auf die Beine und trat dem Angreifer das Gewehr aus der Hand. Er konnte nicht sehen, wo das Gewehr landete, auch nicht, was mit Rica war, denn er hatte alle Hände voll damit zu tun, die Schläge des verletzten Mannes abzuwehren, der noch immer wie ein Berserker kämpfte.
Jan bekam das Messer zu fassen, das noch im Gesäßmuskel des Mannes steckte. Er zog es heraus, der Mann schrie schmerzgepeinigt auf und schlug um sich.
Ein Treffer erwischte Jan an der Schläfe. Er ging zu Boden, und als er aufsah, rannte der Mann humpelnd in den dunklen Wald davon.
Es dauerte ein paar Sekunden, ehe Jan wieder bei Sinnen war. Er kämpfte sich mühsam auf die Beine und torkelte zu Rica hinüber, die noch immer reglos am Boden lag.
Er fiel neben ihr auf die Knie, sah das Blut in ihrer linken Gesichtshälfte und wurde fast verrückt vor Angst.