11 .
J an warf einen letzten Blick auf sein Handy.
Er hatte noch Empfang, aber Rica hatte nicht wieder angerufen. Er steckte das Telefon weg, um sich auf die vor ihm liegende Aufgabe zu konzentrieren.
Auf einer kleinen Lichtung, an deren Rand er sich verbarg, lag inmitten der Wälder nahe dem Teufelssee eine alte Hofstelle. Bestehend aus dem Haupthaus, einem Stallgebäude sowie einer kleinen Scheune aus Holz. Alle Gebäude waren in U-Form um den mit Feldsteinen gepflasterten Hof gebaut. Schnee bedeckte die umstehenden Tannen, die Dächer, das Hofpflaster.
Der weiße Transporter, dem Jan gefolgt war, parkte vor dem Haupthaus. Auf seiner Windschutzscheibe schmolz der Schnee noch. Daneben stand eine schwarze Limousine mit deutschem Kennzeichen.
Jan hielt sich in der Deckung des Unterholzes nahe der Einfahrt auf und behielt die Hofstelle im Blick. Sie sah exakt so aus wie auf der Zeichnung, die er aus der Hand von Bettina Füllkrug hatte.
Hier war er richtig.
Hinter den kleinen Butzenfenstern des Haupthauses brannte Licht, aber sie waren zu klein, um dahinter irgendetwas erkennen zu können – oder irgendjemanden. Wo hielten sich die Menschen auf, die mit den beiden Fahrzeugen gekommen waren?
Der Wind wurde stärker, die Temperatur fiel, die Zeit verstrich. Jan konnte nicht länger untätig herumsitzen. Er überwand eine brusthohe Mauer und schlich unter dem weit überstehenden Dachvorsprung des Stallgebäudes auf das Haupthaus zu. Er kam an mehreren kleinen Stallfenstern vorüber, die von innen zugemauert waren.
Jan behielt die Dachvorsprünge im Auge und entdeckte mehrere Videokameras, die den Hof überwachten. Wenn er Glück hatte, konnte er deren Erfassungsbereiche meiden. Wenn nicht, würde er mit den Konsequenzen zurechtkommen müssen.
Sein Messer steckte in der Halterung am Schienbein, die Waffe hielt er in der Hand.
Auf Höhe des weißen Transporters angelangt, konnte Jan die Beschriftung auf der Flanke entziffern. Sie bestand aus zwei Schriftzügen. Der obere, große in tschechischer Sprache, der kleinere auf Deutsch.
»Autocraft. Verleih von Fahrzeugen aller Art. Lkw, Pkw, Anhänger, Transporter. Umzugsservice.« Dazu eine Internetadresse.
Wie vom Donner gerührt stand Jan da und starrte die Aufschrift an.
Ein Umzugsservice?
Konnte das sein?
Jan verharrte dicht an die Wand des Stallgebäudes gepresst und holte sein Handy hervor. Er schoss ein Foto von dem Transporter mit der Aufschrift und den Kennzeichen und schickte es mit einem kurzen Kommentar an Rica. !Bitte überprüfen!!
Dann steckte er das Handy wieder ein.
Umzugsservice!
Jan verstand nicht, wie jemand über den Verleih von Umzugstransportern auf Mädchen im Teenageralter gestoßen war, die zu Hause unglücklich waren und vielleicht sogar darüber nachdachten, wegzulaufen. So etwas erzählte man doch nicht dem Typen, bei dem man den Wagen mietete, oder den Jungs, die Möbel und Kartons trugen.
Aber darüber nachzudenken musste warten.
Viel dringlicher war es, herauszufinden, was auf diesem Hof stattfand und ob die beiden verschwundenen Mädchen, von denen er wusste, Melissa Rimkus und Maja Fischer, hier waren.
Jan wollte sich dem Hauptgebäude nähern, als die Außenbeleuchtung ansprang. Ein Bewegungsmelder, in dessen Erfassungsbereich er geraten war, hatte sie vermutlich ausgelöst. Jan machte einen Satz nach vorn und versteckte sich in der dunklen Ecke zwischen den beiden Gebäuden. Schnee fiel durch das starke Licht des Scheinwerfers.
In dem Stallgebäude ging eine Tür auf. Sie quietschte in den Angeln. Ein Mann trat heraus, und trotz der schlechten Sicht erkannte Jan ihn sofort.
Es war der Typ, mit dem er an der Raststätte gesprochen hatte und der danach in den Handwerkerwagen mit dem Werbeschriftzug »Haus und Hof« gestiegen war.
Nach und nach fügten sich die Puzzleteile.
Der grobschlächtige Mann mit Bierbauch trug einen blauen Arbeitsoverall und eine schwarze Strickmütze. Er trat ein paar Schritte auf den Hof hinaus und sah sich um. Da Jan unter dem Dachvorsprung entlanggegangen war, hatte er keine Spuren in der frischen Schneedecke hinterlassen. Das schien den Mann zu beruhigen. Den ausgelösten Bewegungsmelder schob er wohl auf den Schneefall. Nachdem er sich umgeschaut hatte, zündete er sich in aller Ruhe eine Zigarette an, nahm ein paar Züge und ging schließlich zu dem Transporter hinüber. Er öffnete die Hecktüren, holte einen Karton hervor und trug ihn in das Stallgebäude.
In Gedanken verglich Jan noch einmal die Zeichnung auf dem Zettel aus der Hand von Bettina Füllkrug mit der Realität. Der Mann hatte den Karton dorthin getragen, wo sich auf der Zeichnung ein kleines Rechteck in einem großen Rechteck befand – was auch immer das zu bedeuten hatte.
Jan sprintete zu der offen stehenden Tür und lugte um die Ecke. Es war dunkel, das einzige Licht fiel durch eine weitere Tür auf der gegenüberliegenden Seite. Den Geräuschen nach zu urteilen, war der Mann dort beschäftigt.
Zwischen verschiedensten Gartengeräten und Werkzeugen hindurch suchte Jan sich einen Weg dorthin und spähte um die Ecke.
Der Mann kniete in einem großen Raum mit einer Balkendecke, die in der Mitte zu den Dachpfannen hin offen war. Der Fußboden schien aus altem, gestampftem Lehm zu bestehen, in der Mitte jedoch klaffte ein Loch von einem Meter Breite und vier bis fünf Metern Länge. Dieses Loch war wohl mit alten Holzbohlen abgedeckt gewesen, sie lagen aufgestapelt daneben. Zudem entdeckte Jan eine Plane, die vermutlich über den Holzbohlen gelegen hatte und nun zurückgeschlagen war. Ein Teil der Plane verschwand im Boden und Jan begriff, was es damit auf sich hatte. Um dieses Loch zu tarnen, wurde die Plane mit Sand und Stroh bedeckt.
Im Licht einer nackten Glühbirne unter der Decke las Jan den Aufdruck auf dem Karton, den der Mann hereingetragen hatte. Wie es aussah, handelte es sich um haushaltsüblichen Abflussreiniger.
Der Mann, der vor dem Loch kniete, hatte eine der Kunststoffflaschen aus dem Karton herausgenommen, den Deckel abgedreht und war gerade dabei, den pulvrig weißen Inhalt in das Loch zu schütten. Als die Flasche leer war, steckte er sie in den Karton zurück, nahm die nächste und wiederholte die Prozedur. Zwischendurch zog er immer wieder an seiner Zigarette.
Jan löste sich von seinem Versteck bei der Tür und schlich von hinten auf den Mann zu. Er hob die Waffe an, um ihm damit auf den Schädel zu schlagen.
Doch der Mann schien seine Anwesenheit zu spüren.
Plötzlich drehte er sich um und schleuderte die Flasche mit dem Abflussreiniger in Jans Richtung. Das weiße Pulver verteilte sich in der Luft, und Jan schloss die Augen, damit sie nicht verätzt wurden. Er spürte das Pulver an sich herunterrieseln. Als er die Augen öffnete, kam der Mann mit gebeugtem Oberkörper, den Kopf voran, auf ihn zu wie ein Rammbock. Ausweichen konnte Jan nicht mehr. Also spannte er die Bauchmuskulatur an, bereitete sich auf den Aufprall vor, und als er kam, drosch er dem Mann den Knauf seiner Waffe auf den Hinterkopf, so fest er nur konnte.
Das Gewicht des Mannes riss Jan von den Beinen. Er stürzte rücklings zu Boden, und der Fremde blieb bewusstlos auf ihm liegen.
Jan hatte Mühe, sich von ihm zu befreien.
Dabei schob er sich rückwärts kriechend in Richtung des Loches im Boden, und als er dessen Rand erreichte, war die Neugierde zu groß – er musste einen Blick hineinwerfen.
Für den Rest seines Lebens würde er sich wünschen, er hätte es nicht getan.
Hier war sie.
Die Grube, von der die sterbende Bettina Füllkrug auf der Autobahn gesprochen hatte.
Bei dem Loch handelte es sich um eine alte Jauchegrube aus der Zeit, als dieser Hof noch landwirtschaftlich betrieben worden war. Sie war zur Hälfte mit schwarzem Wasser gefüllt. In dem Wasser trieben weiße, aufgeblähte Körper. Frauenkörper. Auf den ersten Blick zählte Jan drei Körper, und aus der kurzen Distanz konnte er sehen, wie das weiße Pulver des Abflussreinigers seine zersetzende Arbeit dort begann, wo es auf das nasse Fleisch gerieselt war.
Würgend wandte Jan sich ab.
Schon kam der Mann erneut auf ihn zu.
Diesmal allerdings mit einer rostigen Sense in der Hand, die er schwang wie Gevatter Tod.
In Jan veränderte sich etwas.
Im Bruchteil einer Sekunde verschwanden sämtliche Empfindungen und Emotionen hinter einer tiefroten Wolke aus unfassbarer Wut. Er geriet in einen Tunnel, der sein Denken und Handeln einzig auf seinen Gegner fokussierte.
Auf diesen Mann, der seine Menschlichkeit verwirkt hatte.
Jan ließ ihn kommen und wich dem gewaltigen Hieb mit der Sense aus. Durch die Wucht des Schlages und seines eigenen Gewichts getrieben, taumelte der Mann nach vorn. Und schaffte es gerade noch, nicht in die Jauchegrube zu stürzen. Er war so mit sich selbst beschäftigt, dass Jan genug Zeit hatte, sein Messer zu ziehen und es dem Mann von hinten in die Niere zu stoßen. Dann gab er ihm einen Schubs, und er fiel kopfüber in die Grube. Sein kurzer Schrei wurde von dem schwarzen Leichenwasser erstickt.
Jan blieb am Rand der Grube hocken und wartete.
Unten im Wasser schlug der Mann wild um sich, und die Körper gerieten in Bewegung. Sie tanzten einen grausigen Tanz, schienen nach dem Mann greifen und ihn festhalten zu wollen.
Der Stich war nicht tödlich gewesen, und Jan musste dafür sorgen, dass der Mann nicht zu schreien begann, wenn er auftauchte.
Schon stieß der Kopf durch die aufgewühlte Wasseroberfläche. Er schnappte nach Luft, schluckte Wasser und Rohrreiniger und paddelte wie jemand, der nicht schwimmen konnte. Seine Mütze hatte er im Wasser verloren. Jan krallte die Finger ins Haar des Mannes und drückte ihn wieder hinunter. Das Wasser bot ihm keinerlei Halt, er schluckte immer mehr davon, und so dauerte es keine Minute, bis seine Bewegungen erlahmten.
Obwohl sein Arm schmerzte und seine Muskeln zu verkrampfen drohten, ließ Jan den Kopf erst los, als der Mann sich nicht mehr bewegte.
Der Körper sank zu Boden, die Reihe aus Leichen schloss sich über ihm.
Jan wandte sich ab.
Schwer atmend hockte Jan neben der Grube.
Die Gerüche, der Anblick …
Jetzt, da die unmittelbare Gefahr vorüber war, konnte er nicht mehr an sich halten. Sein Magen verkrampfte sich, und er übergab sich auf den staubigen Boden.