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ördis Fischers Gesicht war ausgezehrt und bleich wie das einer Toten, und sie wusste, es lag nicht an dem grellen Licht über dem Spiegel des Waschraums im Krankenhaus.
Sie war in eine Hölle hinabgestiegen, die speziell Müttern vorbehalten war, dort spielten Fantasien und Vorstellungen, Befürchtungen und Ängste eine maßlos größere Rolle als das greif- und sichtbar Böse.
Jördis drehte den Hahn auf und benetzte das Gesicht so lange mit kaltem Wasser, bis ihre Haut kribbelte und rot leuchtete. Dann trocknete sie sich mit einem Papiertuch ab und versuchte, sich selbst ein Lächeln zu schenken. Aufmunternd sollte es wirken, Zuversicht vermitteln. Sie durfte nicht all die Sorgen und Ängste mit in das Krankenzimmer nehmen, in dem ihre Tochter Maja lag.
Sie war wieder da. Aber was hatte sie nur durchgemacht in dieser kurzen Zeit? Die Polizei hielt sich mit genaueren Informationen zurück. Jördis wusste nur, dass Maja in der Nähe des Bahnhofs entführt und zu einem einsam gelegenen Gehöft an der deutsch-tschechischen Grenze verschleppt worden war. Dort hatte man sie eingesperrt, pornografische Videos mit ihr gedreht und sie misshandelt. Sie hatte Prellungen, eine Gehirnerschütterung und einige Schnittwunden am Oberkörper davongetragen, von denen zwei genäht worden waren.
Das war einfach zu monströs, als dass Jördis den wahren Umfang des Grauens erfassen konnte, den Maja erlebt hatte.
Und jetzt, nachdem sie mit der Polizei gesprochen hatte und ihr von
dem Arzt versichert worden war, dass Maja körperlich in ein paar Tagen genesen sein würde, durfte Jördis zu ihr. Die Wirkung des Beruhigungsmedikaments ließ nach, sie war jetzt ansprechbar.
Jördis hatte Angst davor, zu ihrer Tochter zu gehen, denn sie befürchtete, dass Maja ihr die Schuld an alldem geben würde. Weil sie sie mit dem Umzug, ihrer Schnüffelei in der Schule und dem unsäglichen Streit an jenem Abend aus dem Haus hinaus auf die Straße getrieben hatte, wo dieses Monster schon auf sie gewartet hatte.
Und damit hätte Maja recht.
Denn Jördis hatte als Mutter versagt, hatte egoistisch gehandelt und nur sich selbst gesehen und war davon ausgegangen, dass Maja sich schon eingewöhnen würde, so wie sich ein Hund klaglos in eine neue Umgebung eingewöhnte.
Das allein war schlimm genug, und jetzt kam noch hinzu, dass Maja wahrscheinlich schwer traumatisiert war und den Rest des Lebens unter den Folgen würde leiden müssen.
Diese Gedanken fraßen Jördis innerlich auf.
Jetzt für ihre Tochter da zu sein, komme, was wolle, war das Einzige, was sie zur Wiedergutmachung in die Waagschale werfen konnte.
Hoffentlich reichte es!
Ein letzter Blick in den Spiegel, dann wandte Jördis sich ab, ging auf den Gang hinaus, hielt vor Zimmer 311 noch einmal inne, atmete tief ein und aus und klopfte schließlich sacht an. Eine Reaktion bekam sie nicht, öffnete die Tür dennoch und betrat den durch orange Vorhänge abgedunkelten Raum. Das diffuse Licht war warm und fürsorglich. Maja lag allein in dem kleinen Zimmer, sie wirkte klein und verloren in dem massiven Krankenbett. Ihr Gesicht war der Tür zugewandt, ihre Augen geöffnet.
»Mama«, sagte sie leise.
Vier Buchstaben nur, zusammengehalten von einem Band, das
keine Macht der Welt zerreißen konnte. Und so, wie Maja sie ausgesprochen hatte, verdrängte Liebe in diesem Moment Angst und Sorge, und obwohl Jördis sich vorgenommen hatte, stark zu sein, flossen augenblicklich die Tränen.
Sie stürzte auf das Bett zu und fiel ihrer Tochter um den Hals. Hielt sie fest, spürte, wie Maja sie umfasste, ihre warmen Tränen an ihrem Hals, das Beben in ihrem Oberkörper. Minuten verrannen, orangefarbenes Licht hüllte sie ein, die Welt schrumpfte zusammen auf dieses Krankenhauszimmer, in dem jede Bedrohung unendlich weit entfernt schien.
Maja sprach zuerst. »Es tut mir so leid«, brachte sie unter Tränen hervor. »Ich war so gemein zu dir, und das tut mir so leid …«
Die Worte zerrissen Jördis schier, und für eine Sekunde glaubte sie, nie wieder ein Wort sprechen zu können. Dann nahm sie sich zusammen und schob sich ein Stück hoch, um ihrer Tochter in die Augen schauen zu können. Sie waren ebenso tränenverschleiert wie ihre eigenen, feuchte Rinnsale schimmerten auf den Wangen.
»Dir muss nichts leidtun … aber ich …« Jördis schüttelte den Kopf, schloss für einen Moment die Augen. »Wie soll ich das je wiedergutmachen …«
Wieder umarmten sie sich, bis die Tränen nachließen und die Fesseln um ihre Kehlen ihren Druck minderten, sodass sie sprechen konnten.
»Wir gehen wieder zurück«, sagte Jördis. »Der Umzug … das war ein Fehler … wir gehen wieder zurück.«
Langsam und vorsichtig schüttelte Maja den Kopf. »Lass uns einfach nur zusammenhalten, ja? Du und ich. Das ist alles, was ich brauche. Und dann ist es auch egal, wo. Lass uns so sein wie früher … geht das?«
Jördis nickte und wischte erst sich und dann ihrer Tochter die Tränen von den Wangen.
»Das geht, meine Kleine, das geht ganz sicher.«