Dünne Beine sind für ein Mädchen kein Grund, sich geschlagen zu geben. Vor allem dann nicht, wenn das Mädchen erst neun Jahre alt ist und noch nie über seine dünnen Beine nachgedacht hat.
So war Lou ein paar Jahre vor den blutigen Ereignissen an der Tankstelle von Courcelles einfach nur ein klapprig dürres Kind, das ein hellgrünes Fahrrad mit einem ebenfalls klapprigen Gepäckträger besaß. Ihr erster richtiger Freund – so nannte sie ihn – war so alt wie sie.
»Wie heißt du?«
»Fabien, ich wohne oben in der Rue Bonaparte.«
»Tolles Fahrrad, wie viele Gänge?«
»Fünf.«
Fünf Gänge, das war 1978 ganz gut für ein Fahrrad, das von Lou hatte nur drei. Die brauchte es auch, denn die wenigsten Wege in Courcelles sind eben, und Lou liebte es, sich und ihr Fahrrad mit hochrotem Kopf und brennenden Augen über steilste Waldwege und Trampelpfade auf den Berg hinter der Stadt hochzuquälen, um sich dann in halsbrecherischem Tempo …
»Hör auf, Mama, ich falle nicht. Außerdem ist es mein Fahrrad.«
Da hatte sie vollkommen recht, sie stürzte nie. Und wenn es mal passierte, waren es höchstens ein paar Schrammen oder eine Beule am Kopf. Nur einmal war es schlimmer, da konnte Lou eine Woche lang ihren Kopf nicht mehr drehen. Zum Glück merkte es niemand, und davon abgesehen machte man in Courcelles auch nicht aus jedem Wehwehchen gleich eine große Sache. Man nahm auch an, schwere Verbrechen würden woanders geschehen.
Schon bald beherrschte Lou ihr Fahrrad, als wäre es ein Teil von ihr. Selbst engste Kurven nahm sie wie eine Rennfahrerin. So wie sie wagte das niemand. Außer Fabien, der allerdings immer aufs Neue stimuliert werden musste.
»Jetzt trau dich doch mal richtig, dann bist du auch schneller.«
Fabien hatte Übergewicht und die Angewohnheit, stets durch den offenen Mund zu atmen. Überhaupt schloss er den Mund nur selten, was ihn dümmer aussehen ließ, als er war.
»Einfach runter, Fabien. Richtig treten. Und nie auf die Bremse.«
War das bereits ein Hinweis auf Stärke? Hatte Lou schon damals mehr Mut, mehr innere Kraft als andere, übte sie sich auf diese Weise darin, über Widerstände, gleich welcher Art, hinwegzugehen?
»Und was machen wir jetzt?«
»Dir fällt auch nie was ein, Fabien. Du bist richtig dumm.«
»Ja, aber was machen wir jetzt?«
»Wir könnten den Berg noch mal runterfahren.«
Auch mit zehn wusste Lou noch nichts von der Verantwortung, die es bedeutet, ein Leben zu führen, sie jagte einfach auf ihrem laut klappernden Fahrrad herum, und nicht selten sagten dann irgendwelche Alten hinter einer Buchsbaumhecke, ohne sie überhaupt zu sehen: »Das ist die Kleine von den Bateliers.«
Nie zog sie die Schrauben ihres Gepäckträgers an, immer war anderes wichtiger. In dieser Weise, also klappernd, klapperte Lou nach und nach die nähere Umgebung von Courcelles ab, sah Störche, ein verbrauchtes, abgemagertes Pferd und die alte Mühle, oben am rauschenden Bach.
Der kleine Ort, in dem Lou 1969 geboren wurde, liegt am Fuß eines langgestreckten steilen Walls, einer Riesenwelle ähnlich, den manche großmütig als Vorgebirge der Vogesen bezeichnen. Wegen dieser mit hohen Buchen bestandenen Welle, die sich 120 Meter über den Ort erhebt, heißt die Stadt Courcelles-la-Montagne. Doch niemand hier benutzt diese Bezeichnung.
Und vor der Welle? Wenn man nach Süden blickt, was ist da? Nun, ein Tag, wie er charakteristisch ist für die Gegend, für die Jahreszeit.
Der nächtliche Regen hat gegen drei Uhr morgens aufgehört. Um kurz nach vier dämmert es, und man weiß, der Asphalt, der wird heute weich werden. Noch ist es nicht so weit, noch hocken sie. Auf den Ästen der Bäume. Regungslos. Vögel. Ihr schwarzes Gefieder, in den kühlen Böen des Morgenwinds gesträubt, schluckt alles Licht.
Hinter ihnen, so weit das Auge blickt, dehnt sich das Land in schattig grünen Wellen. In dieser Struktur zeichnen sich auf den Wölbungen der Hügel bereits erste tiefviolette, teils roséfarbene Flecken ab, die an der Linie eines geschwungenen Horizonts mit den noch unbestimmten Farben des Himmels verschmelzen. Dazu schlanke Pappeln um einzelne Gehöfte herum. Vieh. Noch trüb und träge. Das ist die Ebene vor dem Wall, der Courcelles im Sommer bereits ab 15 Uhr beschattet. Die Ebene, die Vielfalt der Farben, das alles müsste viel genauer beschrieben werden, um einen Eindruck zu geben, denn es ist ja so: Erst auf dem Gipfel des Besonderen zeigt sich das Allgemeine. Das gilt wohl auch für Gesellschaften.
Nun aber der Tag. Die Stunden vergingen, die Temperatur stieg. Und am Nachmittag erklärte Lou, rot und verschwitzt: »Ja, Fabien, du bist schneller geworden, aber du bremst immer noch in der Knüppelkurve. Warum?«
Er antwortete so hastig, als hätte er auf die Frage gewartet: »Weil ich da am meisten Angst habe.«
»Wovor?«
»Dass ich wegrutsche und falle und sterbe, es geht da fünf Meter runter.«
Lou hatte nie über diese Gefahr nachgedacht, und warum die Schlucht Wolfsschlucht hieß, wusste nicht mal ihre Lehrerin. Jedenfalls war da ein baumfreier Kratzer, und dank dieses Kratzers, der von Weitem aussah, als hätte eine riesige Kreatur mit langen Fingernägeln einmal mit ihrem Zeigefinger am Berg runtergeratscht, konnte man von der Knüppelkurve aus den östlichen Ortsausgang von Courcelles sehen, den Bereich, in dem die Lagerhäuser der Spedition Larousse standen. Auf der anderen Straßenseite erkannte man sogar noch die spurdurchzogenen Stellplätze. Manchmal parkten dort dreißig LKWs und manchmal nur drei.
»Trau dich, Fabien! Du hast eine 5-Gang-Schaltung. Wenn du es schaffst, in der Knüppelkurve nicht zu bremsen, bist du schneller als ich.«
»Ich hab aber Angst.«
»Los! Ohne Angst.«
Courcelles könnte schön sein. Einige Häuser jedenfalls bieten einen Anblick, den Touristen für gewöhnlich als ästhetisch und passend empfinden, da die uralten Behausungen aus dem Gestein des Bergs bestehen, ihm sozusagen entrissen wurden. In der Kirche steht eine kostbare Figurengruppe aus dem vierzehnten Jahrhundert, die zeigt die Anbetung der Heiligen Jungfrau durch die Hirten und Tiere. Lou hat dieses Meisterstück eines Unbekannten oft betrachtet, denn ihre Tante war eine eifrige Kirchgängerin.
So schlicht, so bunt, so klar. Das Kunstwerk mit der Jungfrau, den wüsten Männern und den wilden Tieren hatte ihr anfangs mehr Angst gemacht als das Bild des Gekreuzigten, das mit dem brennenden Busch oder das mit den Schädeln, den Scheiterhaufen, den prasselnden Heuschrecken, der Flutwelle oder dem Kopf auf dem Tablett. Trotzdem blieb sie stets so lange vor der Figurengruppe stehen, dass ihre Tante sie rufen musste, nachdem sie die Kerze für ihren Vater Emile entzündet und gebetet hatte.
Turmfalken umkreisen den Kirchturm, sie gehören noch heute ins Bild.
Leider wurde die Kirche wie die meisten Gebäude in Courcelles irgendwann verputzt und in falschen Farben gestrichen. Überhaupt, die Farben: Purpur, Gold, Grün bis ins Graue hinunter, zwischendrin ein von innen heraus leuchtendes, beinahe kristallines Rosa, schnell vernichtet von einem alles überstrahlenden Weiß, irisierend, schimmernd und in Wirbeln flimmernd über den Maisfeldern, tief unten in der Ebene, auf die Lou ihren Blick damals richtete. Diese Farben sind alle falsch, übersteigert bis an die Grenze zum Aggressiven, unter dem Licht einer Sonne, die alle Konturen verflacht, Linien auflöst und selbst Vögel, Kühe und Schweine zu Boden drückt. Aber morgens! Und erst recht abends. Da kommen die Farben und Konturen zurück, da erheben sich die Tiere, und die Kühe legen ihre Köpfe weit in den Nacken. Das Spiel dauert nur zehn, fünfzehn Minuten. Lou fuhr oft auf den Berg, um diese Verwandlung der Welt zu betrachten.
Aber was sah sie? Was empfand sie? Hat ein Kind wie Lou schon ein Gefühl für Zeit? Für Abstraktion? Für Verantwortung und Mitleid? Hatte man ihr das bereits beigebracht? Oder dachten ihre Eltern: ›Lassen wir ihr ein paar schöne Jahre, schließlich ist sie ein Mädchen.‹
»Was ist los, Fabien? Warum weinst du?«
»Ich wäre fast in die Wolfsschlucht gestürzt. Dann wär ich jetzt tot!«
»Du hast ein besseres Fahrrad als ich und schaffst es trotzdem nicht?«
Ein Ast bewegte sich, ein Lichtstrahl fiel auf sein knallrotes Fahrrad.
»Pass auf, Fabien, wir tauschen die Räder. Du gibst mir deins und ich gebe dir meins.«
»Für immer?«
»Überleg’s dir. Und mach den Mund zu, da fliegen sonst Fliegen rein, und das ist schlimmer als tot.«
Eine Stadt ist Courcelles nur der zahlenmäßigen Definition nach, der Charakter ist eher der eines Straßendorfs. Die traufständigen, ungegliedert zweigeschossigen Bauten bieten selbst im Sommer ein schwaches, beinahe freudloses Bild, wirken, indem sie die Perspektive betonen, als wollten sie den Besucher möglichst schnell durch den Ort hindurchleiten. Die Gebäude folgen dabei im Wesentlichen der Rue Fleurville. Die führt von Metz über Courcelles und Avondville zur nächstgrößeren Kreisstadt, also nach Fleurville. Und da ist man dann fast schon in Deutschland.
»Jetzt fahr los, Fabien, es wird gleich dunkel!«
»Nein!«
»Fahr! Ein letztes Mal.«
»Aber du bist Schuld, wenn was passiert.«
Auf dem Abschnitt zwischen Avondville und Fleurville verläuft die Straße ein Stück weit parallel zum Canal de Songe, einer bis zum Ende der zwanziger Jahre bedeutenden Wasserstraße, die, wie Lou und Fabiens Lehrerin ihnen in Heimatkunde beigebracht hatte, 1879 von einem deutschen Ingenieur mit einem unstillbaren Kummer erdacht wurde und seither zwei große Flusssysteme verbindet. Eine stark verblichene Fotografie des Deutschen hängt noch heute im Rathaus von Avondville zwischen zwei alten Türen, die selten geöffnet werden, und wer sich mit Menschen auch nur ein wenig auskennt, wird schnell erspüren, dass dieser Ingenieur wohl vor allem auf Grund einer nie endenden Traurigkeit im Leben so viel erreicht und geschaffen hat. Lou war mal mit ihrer Klasse dort gewesen, und ihre Lehrerin hatte einige Zeit suchen und rufen müssen, ehe sie Lou vor der Fotografie fand, die sie in einer Weise, einer Körperhaltung betrachtete, als würde es so etwas wie Zeit oder Eile für sie nicht geben.
Nachdem sie mit dem Berg fertig war, gefiel es Lou, mit ihrem Fahrrad haarscharf an der steilen Böschung des Canal de Songe entlangzufahren. Sie freute sich, wenn massenhaft Frösche ins Wasser zwischen die Schlingpflanzen sprangen oder ein Reiher aufflog, nur um sich, faul wie diese Tierart nun mal ist, nach einer kurzen Gleitphase auf der anderen Seite wieder ins Schilf zu stellen.
»Wir sind keine Freunde mehr. Tut mir leid, Fabien, das ist jetzt für immer.«
Fabien fing an zu weinen, als Lou das sagte, und … hatte sie ihn nicht schon halb vergessen, als er fragte: »Warum?«
»Weil dir nie was einfällt und weil du nie richtig weit von zu Hause wegdarfst.«
»Und mein Fahrrad?«
»Wir haben getauscht.«
Aber war das ein Tausch? Nicht eher ein Diebstahl, eine List? Ein gemeines Austricksen zumindest. Fabiens Eltern jedenfalls sahen das so, und Lou musste das Rad zurückgeben. Aber warum hatte sie so etwas Gemeines überhaupt gemacht? Wirkte da eine Substanz, die ihr mitgegeben war? Nun, sie wurde bestraft, denn man nahm ihr das Fahrrad ja wieder weg, und ihr Stiefvater erklärte Lou sehr genau den Unterschied zwischen richtig und falsch. Sie wirkte nach seiner Ansprache tatsächlich einen Moment lang bedrückt. Nur warum? Weil sie sich schämte? Oder weil sie das Fahrrad zurückgeben musste?
Die Unterhaltung mit ihrem Stiefvater dauerte lange, und er ergänzte seine Lehre von richtig und falsch, nachdem Lou sich die Zähne geputzt hatte und im Bett lag, mit einem Märchen, das von fremden Wanderern handelte, die von Dorf zu Dorf zogen, um dort zu arbeiten.
»Unter diesen Wanderern gab es zwei, die nachts in Häuser eindrangen und dort Dinge taten …«
Dinge, die er in der Geschichte mit Worten beschrieb, die Lou nicht kannte. Als ihr Stiefvater an dieser Stelle war und Lou anfing, am Fingernagel ihres rechten Daumens zu knab-bern, meinte er, es sei für heute genug.
»Nein, weiter. Nur noch ein bisschen.«
»Aber wirklich nur noch ein bisschen.«
Am Ende des Märchens verbrannten zwei von den Wanderern, weil plötzlich Flammen aus den Wänden und allen Fenstern und Türen des Hauses herausgesprungen kamen, in dem sie gerade gewütet hatten.
»So standen die beiden zum Schluss eng umschlungen ganz oben auf dem Schornstein, wo sie dann in Flammen aufgingen und verschwebten.«
Lou stellte sich wie immer alles ganz genau vor, und dabei zeigte sich zum ersten Mal eine Begabung. Sie verlangsamte das Geschehen, verfremdete es auf diese Weise. Das Bild von den beiden Männern, die eng umschlungen auf dem Schornstein im Feuer tanzten, wirkte auf sie ebenso stark, wie die Vorstellung von Flammen, die ›lecken‹. Vor allem aber das Wort ›verschwebten‹ prägte sich ihr ein, weil sie es vorher noch nie gehört hatte. Es verband sich in ihrem Verstand mit dem Bild eines roten Fahrrads.
Nachdem Lous Stiefvater ihr noch einen Gutenachtkuss gegeben und sie das Licht ihrer Nachttischlampe gelöscht hatte, war es so dunkel, dass man von einer vollkommenen Schwärze sprechen kann.
Aus dieser Schwärze heraus entsteht an einem anderen Ort etwas Neues. Zunächst sieht man nur bräunliche Flecke sowie einige geradlinige Konturen, die keinen Sinn ergeben. Es dauert fast eine Minute, bis man erkennt, dass hier ein großer Stellplatz für LKWs zu sehen ist. Der Boden besteht aus getrocknetem Lehm, darin tiefe Spuren von Fahrzeugen, die rangiert haben oder abgestellt waren.
Eine Weile bleibt es so, und man möchte fast an ein zufälliges nächtliches Stillleben ohne Bedeutung denken. Dann aber fährt von links ein Transporter ins Bild. Eine Schiebetür wird geöffnet, sieben Männer steigen aus. Da sich die Augen inzwischen an das schwache Licht gewöhnt haben, erkennt man, dass es sich bei dem Transporter um einen Ford Transit handelt, und zwar einen der Serie, die in Belgien gebaut wurde. Eine präzise Angabe, und doch ist genau in diesem Moment Vorsicht geboten, denn nächtliche Bilder dieser Art werden vom Verstand schnell für Teile einer Geschichte gehalten und in Vorstellungen eingepasst. Was das Auge in diesem Moment wirklich sieht, also die Linien, Farbflächen, Körper, ist aber nicht das, was die Existenz dieser Männer ausmacht.
Jetzt gehen sie auf ein altes Gebäude zu, wobei sie eine ordentliche Dreier- und Vierergruppe bilden. Ihre Kleidung ist, was die Farben angeht, schlecht zusammengestellt. Gleichzeitig hat aber die Art, wie sie sich bewegen, etwas Geordnetes, wirkt militärisch. Der Fahrer, der die sieben angeführt hat, sagt zwei Worte …
»You wait.«
… und entfernt sich.
Die er zurückgelassen hat, versammeln sich vor dem Gebäude, das kaum mehr als ein Schatten vor einer anderen Dunkelheit ist. In diesem Versammeln zeigt sich eine Präzision, als hätten die Männer das Zusammenstellen in Formationen längere Zeit geübt, als sei es ihnen zur zweiten Natur geworden.
Das Gebäude, vor dem sie stehen, hat zwei kleine, stark eingetrübte Fenster, in denen sich Sprossen kreuzen, Fenster, wie man sie häufig an Schuppen oder alten Lagerhallen sieht. Durch diese Fenster dringt kaum Licht. Daher wirken die Flammen der Feuerzeuge, die nun eine nach der anderen emporspringen, größer, als sie in Wirklichkeit sind. Das überhelle Licht dieser Flammen frisst sich ins Bild, wobei die weißen Fraßpunkte ähnlich Wurzeln oder dem Rhizomgeflecht eines Pilzes organisch wuchern, bis sie das gesamte Bild ausfüllen.