Julien war der Erste aus der Kasse, der mit dem Tod zu tun bekam.
Er war zusammen mit Philippe in Avondville im Kino gewesen. Dort hatten sie einen Film gesehen, der eigentlich nicht für Jugendliche zugelassen war. In diesem Film hatte es keine Sexszenen gegeben, denn der Film handelte von sehr gruseligen Fremden, mit denen eine Paarung, allein schon aus ästhetischen Gründen, undenkbar war. So war auch der Titel, wobei Aliens – Die Rückkehr Philippes analytischem Verstand komisch vorkam.
»Wohin bitte sollen denn Fremde, die im Weltall nichts anderes tun als fressen und sich vermehren, zurückkehren wollen? In die Existenz selbst? Ist das gemeint? Unsterblichkeit?«
»Die kehren doch nicht zurück, Ripley kehrt zurück.«
»Das ist alles?«
Philippe war nach dem Film bei seiner Oma in Avondville geblieben und so musste Julien mitten in der Nacht allein zurück nach Courcelles radeln. Zu allem Überfluss führte die gewundene Straße auch noch ein gutes Stück durch den Wald.
Während er fuhr – Julien hatte sich gerade erfolgreich eingeredet, dass ein Film nur ein Film sei –, kam er auf eine Kurve zu. Und da meinte er hinter den Bäumen einen Schein zu erkennen. Der Schein war weiß, ging aber immer mal wieder ins Bläuliche. Auch Rot kam vor. Er fuhr trotzdem weiter, denn er hatte den größten Teil der Strecke ja schon hinter sich, war schon ganz dicht bei Courcelles. Als er um die Kurve herumkam, staunte er, war aber vor allem erleichtert. Da standen wenigstens zwanzig Leute auf der Straße und außerdem ein Fahrzeug der Gendarmerie mit Warnlicht und allem.
Julien bremste ab. Er befand sich nun hinter einer ganzen Reihe von Rücken und Beinen, sah also nichts. Das störte ihn nicht weiter. Es reichte ihm, was er hörte.
»Ein Schuh.«
»Ein was?«
»Ein Schuh. Man sieht nur einen Schuh, der liegt offenbar hinter der Leitplanke.«
Die Leute wirkten ganz andächtig.
»Ein alter, abgetragener Schuh, den muss es ihm vom Fuß gerissen haben.«
Etwas weiter links sah Julien einen weißen Peugeot 104, der halb in einen Graben gefahren war. Neben diesem Wagen stand eine Frau. Ein kleiner Gendarm ging gerade auf sie zu.
Julien schob sein Rad links an den Gaffern vorbei. Als er dabei näher zu der Frau kam, erkannte er, dass es die Mutter von Albert war, einem aus seiner Klasse. Sie hatte eindeutig einen Schock, ihr Blick schien nach innen zu gehen. Der dramatische Effekt verdankte sich aber vor allem den Lichteffekten aus blauem und rotem Licht. Diesem Pulsieren. Und natürlich der vollkommenen Stille, denn bei Julien hatten sich gerade die Ohren verschlossen. Er hörte nur noch ein helles Pfeifen. Wie immer, wenn er Angst hatte, schob sich Julien einen Streifen Kaugummi in den Mund. Das mit dem Hören würde dann bald wieder in Ordnung sein.
Zuerst versuchte Alberts Mutter sich an ihrem Auto festzuhalten, dann an dem Gendarm. Julien sah nur Bewegungen, auch solche von Mündern, fand aber, dass der kleine Gendarm das gut machte. Er hielt sie einfach im Arm und ließ ihr Zeit sich zu beruhigen. Trotzdem ein komisches Bild, denn die von der Gendarmerie waren für Julien bis jetzt eigentlich nur Figuren gewesen, denen man halt hier und da mal begegnete. Er selbst hatte noch nie etwas Kriminelles gemacht, seine Freunde auch nicht. Außer Lou, aber die hatte nur in Avondville ein schwarzes Top geklaut und war nicht erwischt worden.
Der Frau schien es jetzt etwas besser zu gehen. Jedenfalls löste sie sich von dem kleinen Gendarm. Auch Juliens Gehör funktionierte auf einmal wieder, es ging wie immer fast schlagartig.
»Wie gut, dass Sie das sind, Monsieur Ohayon, mit Ihnen kann man wenigstens vernünftig reden.«
»Haben Sie sich verletzt?«
»Ich war angeschnallt.«
Julien erinnerte sich, Alberts Mutter bestand immer darauf, dass sich alle im Wagen anschnallen.
»Soll ich Sie nicht vielleicht doch erst mal nach Hause bringen?«
»Nein, ich kenne mich, richtig schlimm wird es in einer oder zwei Stunden. Ist er denn wirklich tot?«
»Ja, Madame.«
Dass sie auf diese Auskunft heftig reagieren würde, hätte Julien gleich sagen können. Also hielt der kleine Gendarm sie wieder eine Weile im Arm. Und wieder war sie es, die bestimmte, wann es genug war. Der Gendarm wirkte, wie Julien fand, eigentlich ganz menschlich. Sie versuchte, es schnell hinter sich zu bringen.
»Ich fuhr höchstens sechzig. Ich wollte nach Hause, ich war bei meiner Schwester in Fleurville und …«
Hilflose Bewegungen ihrer Hände.
»… wenn wir nicht so lange geredet hätten, wenn meine Schwester nicht noch zwei Gläser Marmelade aus dem Keller geholt hätte, dann wäre das nicht passiert.«
»Manchmal ist es einfach Pech. Und manchmal kann man auch gar nichts dafür.«
»Weil das ja eine Kurve ist. Verstehen Sie? Auf einmal rannte er mir vors Auto. Dabei hatte ich sogar Fernlicht an, weil ich weiß, dass hier öfter Wildschweine und … der hätte doch sehen müssen, dass da ein Auto kommt. Höchstens sechzig, das müssen Sie mir glauben.«
»Das wird alles noch ausgemessen, wir können sehr gut feststellen, wie schnell Sie waren. Und wenn Sie sagen, sechzig … Sie dürften hier achtzig fahren.«
»Aber wo kam er denn her? Der muss ja direkt da aus der Fichtenschonung gekommen sein. Wer macht denn so was, mitten in der Nacht?«
Julien schob sein Fahrrad ein Stück zurück, um die anderen von der Gendarmerie besser verstehen zu können, die jetzt über den Toten sprachen. Er sah noch immer nichts, aber die Schaulustigen waren ganz still, denn dort an der Leitplanke geschah etwas Entsetzliches. Einer der Gendarmen fing an, zunächst die Lage des Toten zu beschreiben, dann den Zustand seiner Haut sowie seine Kleidung. ›Da schreibt sicher ein anderer mit‹, dachte Julien und hörte auf jedes Wort.
›Aber warum so genau? Warum ist die Kleidung so wichtig?‹ Julien fand keine Antwort.
Abgetragene Sachen. Darauf lief es hinaus. Julien wäre niemals auf die Idee gekommen, dass die Beschreibung der ärmlichen Kleidung eines Mannes unheimlicher war als das tödlichste Stülpgebiss und der ätzendste Triefschleim eines Aliens.
»Einer von da unten«, hatte vorhin jemand gesagt. Julien fiel ein, wie sehr sich Monsieur Theron im Unterricht über diese Bezeichnung für Menschen aus Nordafrika aufgeregt hatte. Dort offenbar kamen der Tote oder seine Vorfahren her. Also mit Sicherheit nicht aus dem Weltall. Es war Julien aber fast so vorgekommen, denn die genaue Beschreibung der Kleidung hatte den Toten in etwas ganz Fremdes verwandelt.
An diese Beschreibung von Kleidungsstücken eines Armen hinter einer Leitplanke musste Julien am nächsten Tag denken, als es darum ging, was jemand hat und will oder eben auch nicht.
»Also, Julien? Was wünschst du dir?«
»Nichts.«
»Julien, bitte! Es darf auch etwas Teures sein. Vielleicht eine Uhr von Bersol? Dein Freund Benoît hat so eine.«
»Keine Uhr.«
»Manschettenknöpfe?«
»Keine Manschettenknöpfe.«
»Dann vielleicht einen schicken Anzug? So einen, wie Albert ihn trägt. Komm, lass uns in den dritten Stock fahren.«
»Nein.«
Julien und seine Mutter standen im Lafayette. Sie hatte ihn mit nach Strasbourg genommen, und da ahnte er schon was in die Richtung. Schließlich würde er in einer Woche siebzehn und sie hatte ihn ja schon ein paarmal damit genervt, dass er ganz eindeutig dabei sei, ein Mann zu werden.
»Du musst doch von irgendwas träumen, Julien, irgendwelche Vorstellungen haben.«
Julien fühlte sich von seiner Mutter so bedrängt, dass ihm übel wurde und seine Ohren wieder zugingen. Also schob er sich schnell einen Streifen Kaugummi in den Mund. Das hier war das Gegenteil von dem, was er wichtig fand. Das hier war äußerlich.
›Innerlich – Äußerlich.‹ Diese Worte führen schon seit einiger Zeit ein lebhaftes Dasein in seinem Kopf. Sie waren von Monsieur Theron gekommen. Davon abgesehen musste er bei dem Wort Anzug sofort an den hinter der Leitplanke denken.
»Was wünschst du dir, Julien? Denk mal richtig nach.«
»Wir kaufen ständig Sachen, die wir gar nicht brauchen.«
»Gut, dann nicht. Fahren wir zurück nach Courcelles.«
Während der Heimfahrt sprach sie kein Wort. Er hatte sie enttäuscht, obwohl er das gar nicht wollte. Julien war im Beisein seiner Mutter manchmal so schlecht, dass ihm Speichel in den Mund schoss und er Angst hatte, sich zu übergeben.
Um nicht ins Auto zu kotzen, um sich an etwas Positivem aufzurichten, fragte sich Julien, wie sehr es seine Mutter wohl schockieren würde, wenn sie ihn mal im alten Steinbruch sähe. Da war er während der letzten Wochen oft gewesen. Zusammen mit Lou und Philippe.