Ich töte

An einem, wie er später meinte, folgenschweren Dienstag um zehn vor acht war Julien wie jeden Morgen während der Woche auf dem Weg zur Schule gewesen. Er besaß sein Moped erst seit zwei Wochen, genoss noch die Kraft des Motors.

›Blinker nicht wieder vergessen …!‹

Er bog von der Rue Fleurville in die damals noch unbefestigte Rue Avondville ein. Eine Abkürzung, die zu seiner Schule führte. Und da kam ihm, nicht zum ersten Mal, ein Wagen entgegen. Der starke Regen verwandelte das Licht der Scheinwerfer in ein blendendes Leuchten.

Das Auto schien direkt auf ihn zuzufahren. Julien hatte trotzdem keine Angst, er kannte solche Situationen und verließ sich darauf, dass der Fahrer dort fahren würde, wo er zu fahren hatte. Und so geschah es dann auch. Der Wagen fuhr – vielleicht etwas zu schnell – vorbei, verpasste ihm eine kleine Dusche, die seinen linken Unterschenkel durchnässte.

Aber es war eben doch nicht wie immer.

Im letzten Moment nämlich, kurz bevor sie einander passierten, sah Julien etwas Unbegreifliches. Das lichtdurchflutete Geprassel des Regens wurde plötzlich von einem kleinen Gegenstand durchschossen. Der bewegte sich entgegen der Gesetze der Schwerkraft und war so unerklärlich, dass Julien einen kurzen Moment lang meinte, er sei direkt aus der Front des Wagens oder aus dem Licht selbst herausgekommen. Schussartig, das kam ihm merkwürdig vor.

Er bremste sein Moped ab, drehte sich um. Die roten Rücklichter des Wagens flammten in einiger Entfernung auf, als er anhielt, um sich in die Rue Fleurville einzufädeln. Doch das nahm Julien nur am Rande wahr. Er wendete und berechnete, wo der Gegenstand gelandet sein müsste.

Als Nächstes drückte er den Scheinwerfer seines Mopeds ein Stück nach unten und suchte, indem er den Lenker nach links und rechts schwenkte, den Boden ab.

Im Laub.

Es war kein Gegenstand, es war ein Eichhörnchen.

Julien brauchte fast eine Minute, bis er sein Moped im weichen Untergrund so aufgebockt hatte, dass es nicht drohte umzufallen und der Scheinwerfer die Stelle richtig ausleuchtete.

Er kniete sich ins nasse Laub und betrachtete das Tier.

Ganz nah, ganz genau.

Es war tot, kein Zweifel.

Es war mit dem Wagen zusammengeprallt und hierher geschleudert worden.

›Am Kopf getroffen. Im linken Ohr Blut. Bestimmt ist der Körper noch warm, er wird bald kalt werden, und dann werden Käfer kommen und die Hülle des Tiers wird ausgehöhlt zusammensacken, und …‹

Er erschrak.

Die Hinterläufe. So schnell, als wollte es weglaufen.

Dann wieder Erstarrung. Er nicht weniger als das Eichhörnchen.

Dann noch mal. Es war noch nicht tot.

Bei seinem letzten Gezappel war das Tier auf die Seite gerollt. Das Blut war rot.

Frisch.

Das Auge des Tiers schien ihn direkt anzusehen.

Noch mal.

Wieder nur die Hinterläufe.

Julien erschrak diesmal so stark – vielleicht die Wirkung des Auges –, dass er sich aufrichtete. Sein Gehör … Er schob sich einen Kaugummi in den Mund.

Er stand jetzt über dem Eichhörnchen.

Das bewegte erneut seine Beine. So schnell und sinnlos. So verzweifelt. Es litt, daran bestand für Julien kein Zweifel. Und auch er litt, denn er war hier aufgewachsen, in Courcelles, einer Kleinstadt, in der es eine Großschlachterei und zwei Mastbetriebe gab, die Schweine in industriellem Stil aufzogen. Ein Umfeld also, in dem man über Tiere anders sprach als in der Stadt. Julien wusste, was er zu tun hatte, und seinem ruhigen, analytischen Verstand war vollkommen klar, dass er deswegen kein schlechtes Gewissen zu haben brauchte.

Also hob er seinen Fuß.

In diesem Moment, als hätte es geahnt, was nun kam, versuchte das Eichhörnchen erneut wegzukommen. Ganz sonderbare Bewegungen. Juliens Fuß – zum Glück trug er Stiefel – schwebte über dem Tier.

Er drehte den Kopf so weit er konnte, blickte schräg hinter sich. Der Motor seines Mopeds lief noch, die Abgase sammelten sich als große Wolke hinter dem Auspuff. ›Natürlich ist das so‹ dachte er, ›ein Moped hat keine Batterie, der Motor muss laufen, sonst leuchtet der Scheinwerfer nicht.‹ Alles schien Julien klar und erklärlich.

›Aber …‹

Würde er es überhaupt schaffen, das kleine Tier auf diesem weichen Untergrund totzutreten? Wie oft würde er zutreten müssen, ehe er sicher sein konnte?

Entscheidend war zuletzt etwas anderes. Er konnte es nicht.

Also kniete er sich wieder hin. Und das verdammte Tier tat ihm nicht den Gefallen zu sterben.

Da berührte er es. Es war warm, und er bildete sich ein, seinen rasenden Herzschlag zu spüren. Er begann, das Eichhörnchen ein wenig zu streicheln.

Der Körper zuckte zusammen, vielleicht hatte das Tier Angst vor ihm, fühlte sich bedroht. Julien spürte, wie ihm Blut in den Kopf stieg.

Schnell zog er die Hand zurück. Der Blutstropfen im Ohr war größer geworden. ›Kein Wunder, wenn sein Herz so schnell schlägt.‹

Julien merkte, dass auch sein Herz schneller schlug, und dass ihm ganz heiß geworden war.

Er wusste genau, was Philippe in dieser Situation getan hätte, er wusste, was nun auch er zu tun hatte, er wusste, was das Beste und Gnädigste wäre. Dreimal hart mit dem Hacken seines Stiefels und das Leid des Tiers wäre vorbei.

Er fasste keinen Entschluss, es passierte von selbst. Er begann wieder, das kleine Eichhörnchen zu streicheln. Er wollte etwas anderes tun, aber es ging nicht. Und so dauerte es noch eine ganze Weile, bis das Eichhörnchen auf den grauen, nassen Blättern starb.

Zuletzt schob Julien etwas Laub über seinem Körper zusammen. Nachdem er noch eine Weile neben dem kleinen Grabhügel gestanden hatte, stieg er auf sein Moped und fuhr.

Das Ereignis mit dem Eichhörnchen beschäftigte ihn. Stets lief es auf das Gleiche hinaus – die Erkenntnis, dass er sich selbst nicht mehr definieren konnte. ›Nicht definieren‹, diese Worte benutzte er in seinen Gedanken. Sie stammten von Philippe. Nach einigen Tagen Verwirrung meinte er, die Sache sei ausgestanden. Doch dann kam die Geschichte wieder hoch.

Julien machte sich nun ernsthafte Vorwürfe, dass er das Leid des Eichhörnchens nicht abgekürzt, es nicht zertreten hatte. Er meinte, nicht aus Mitleid, sondern aus Feigheit gehandelt zu haben. Und so war dies der Moment in seinem Leben, in dem er erkannte, dass er ein Schwächling war, ja, dass er nicht mal eine Entscheidung getroffen, sondern einfach nicht anders gekonnt hatte, als das sterbende Tier zu streicheln. So gesehen war er nicht nur Schwächling, sondern auch unfrei. Schließlich dachte er an Philippe, der ja nun schon seit einiger Zeit nicht nur sein bester Freund, sondern auch sein Vorbild war, was Mut anging und interessante Gedanken. Nach der Eichhörnchengeschichte entstand da ein kleiner Zweifel, und Julien fragte sich zum ersten Mal, ob denn Philippe anders war als er. Dabei hatten sie doch so viel über Freiheit gesprochen.