Momente, in denen sich ein Mensch plötzlich verändert, kündigen sich nicht immer groß an.
Im Lac de Session war das Wasser so klar wie seit Jahren nicht mehr. Es war heiß in Courcelles, die Frauen und Mädchen waren luftig gekleidet, und nicht wenige sagten, sie kämen sich vor, als seien sie leicht betäubt. Das lag möglicherweise am Geruch, denn über dem Ort mit seinem Schweinegestank hing jetzt der intensive Duft von Lavendel, Thymian und Eberraute, Pflanzen, die unter diesen nahezu mediterranen Bedingungen prächtig gediehen.
»Lust auf eine Spritztour mit der Yamaha?«, fragte er, und sie sagte: »Klar.«
Er saß dabei auf seiner Enduro, sie stand daneben und berührte zweimal den Lenker.
»Wann?«, wollte sie wissen.
»Wenn’s dunkel wird?«
»Okay«, sagte sie und überquerte, nachdem er gefahren war, den Schulhof, um zu ihrem Fahrrad zu kommen.
Fünf Stunden später sah der Himmel aus, wie er im Sommer oft aussieht, wenn die Sonne nach einem langen, heißen Tag untergegangen ist. Der Boden bestand aus Sand mit einigen Inseln Gras. Es ist bis heute so, die Stelle hat sich kaum verändert.
»Romantisch, oder?«
»Ja.«
»Da?«
»Okay.«
Sie war zuerst auf der Decke. Sie hörte den überhitzten Auspuff seiner Enduro ein paarmal knacken, als Philippe sich neben sie legte und sofort anfing, über den Himmel, die Weite des Blicks und die Verschmelzung von Farben zu reden. Während dieses Vortrags rutschte er ein Stück näher an sie heran.
Dann begann Philippe über sie zu sprechen, und zwar auf eine Art, als hätte er schon lange auf alles, was Lou gesagt, getan, ja sogar gedacht hatte, geachtet. Nach dieser Erklärung kam er dann noch ein Stück näher. Der Raum, den ihre beiden Körper beanspruchten, war jetzt auf deutlich unter zwei Quadratmeter geschrumpft.
Ein lauer Wind strich über sie hinweg, und der Geruch des Wassers, den er mit sich führte, war angenehm, er vermittelte Lou ein Gefühl von Ungebundenheit, befeuerte ihre Lust auf ein Abenteuer. Als hätte er das erspürt, kam Philippe noch ein Stück näher. Wohl nur zehn Zentimeter.
Diese letzte Distanzverringerung wirkte wie ein Auslöser, denn plötzlich kam es Lou vor, als würde sich die Präsenz seines Körper auf ihren übertragen. Sie spürte, wie eine Art von Elektrizität über ihre Haut ging. Doch so blieb es nur kurz, denn die Kraft bündelte sich schnell, griff an anderer Stelle an. Und so erfasste Lou sehr plötzlich ein Verlangen, das vorher nur Vorstellung oder Träumerei gewesen war. Von der Freiheit einer Entscheidung konnte keine Rede mehr sein. Und genau in diesem Moment sagte Philippe dann etwas, das Lous Zustand und Wollen so genau beschrieb, als könnte er Gedanken lesen.
»Du bist ich und ich bin du.«
Daraufhin bewegte nun auch sie sich, es geschah ganz von selbst. Er deutete diese Bewegung richtig und handelte, wobei es ihr gefiel, dass er zielstrebig war, ohne brutal oder überstürzt zu agieren. Sie war ganz weg, wie man so schön sagt, und so merkte sie nicht mal, dass sie bei ihrer dritten Eskapade einiges an Sand in den Mund bekam.
Erst dann fiel es ihr ein, sie erschrak: »Sag mal, bist du nicht eigentlich mit Claire zusammen?« Er antwortete: »Nein.« Seine Stimme klang dabei vollkommen gelassen und sicher.
Das Abenteuer am Lac de Session war nur ein Anfang, und erst mal nichts Ungewöhnliches. Lou hatte dort schon mit verschiedenen Jungen geschlafen. Was sie innerhalb der nächsten Wochen in einen Zustand ›echter Liebe‹ versetzte, war etwas anderes, und eigentlich das Gegenteil von Romantik. Eine ständige Unberechenbarkeit und Verwirrung zeigte sich bald als die treibende, ihre Verbindung vertiefende Kraft, und Lou spürte schnell, dass ihre Liebe zu Philippe immer ein unerklärliches Geheimnis bleiben würde, eins, bei dem sich Schockzustände mit Phasen absoluten Vertrauens und vollkommener Verschmelzung abwechseln würden.
Unter diesen Bedingungen wurde Lou in kaum zwei Wochen eine andere, und es gefiel ihr zum ersten Mal in ihrem Leben, sich jemandem zu unterwerfen. Aber es war ja auch gar keine Unterwerfung. Oder? Weil er doch sie war und sie er.
Außenstehende machten es sich nicht so kompliziert. Sie sagten, Lou sei eben verknallt.
Nicht alle waren in dieser Zeit so überhitzt wie Lou. Alberts Mutter hatte eine längere Therapie hinter sich, denn sie hatte einen jungen Mann überfahren. »Getötet«, sagte sie immer. Und auch als sie sich wieder halbwegs im Griff hatte, war sie nicht mehr dieselbe. Sie geriet oft in nachdenkliche Zustände, und wenn sich dann jemand im gleichen Raum befand, konnte es vorkommen, dass sie plötzlich mit enormer Präzision davon berichtete, wie ihre Schwester, »wir hatten uns doch schon verabschiedet!«, plötzlich noch schnell in den Keller gelaufen war, um ihr zwei Gläser Marmelade mitzugeben. Danach blieb sie dann still.
Auch für die Gendarmerie Courcelles hatte der Tote hinter der Leitplanke etwas sehr Zähes. Es gelang nämlich nicht, ihn zu identifizieren. Unidentifizierbarkeit bedeutet letztlich einen Verlust an Kontrolle. Unidentifizierbarkeit ist eine Vorstufe zur Gefahr. Zudem stattete Gendarm Conrey aus Fleurville der Gendarmerie Courcelles immer mal wieder einen Besuch ab und erkundigte sich. Ohayon spürte, dass sein Kollege von irgendetwas besessen war. Und so können diese Besuche Conreys durchaus als eine Art Initialzündung gewertet werden, denn Gendarm Ohayon begriff in dieser Zeit, dass Polizeiarbeit mehr sein kann als Arbeit.