Brand und Beruhigung

Die Flammen zeigten sich in maximalem Kontrast vor dem Schwarz des Himmels. So wirkte das Feuer viel größer und gewaltvoller, als es in Wirklichkeit war. Der Schein der Flammen wurde von dem flachen, geteerten Giebeldach schemenhaft reflektiert.

Vor dem Bild eine Region der Unschärfe. Ein Sprühnebel aus feinsten Tröpfchen und Dampf. Überhaupt triefte alles vor Nässe, denn sechs Löschfahrzeuge pumpten massenhaft Wasser auf das Gebäude. Überall auf dem inzwischen stark aufgeweichten Boden hatten sich in den alten Spuren der schweren LKWs längliche Seen gebildet, die den Brand vielfach spiegelten.

Was hier in Flammen stand, war das letzte Lagerhaus der Spedition Larousse, das noch aus Holz bestand, es war über hundert Jahre alt. Und es war nicht der erste Brand dieser Art, denn gegen die Spedition wurde schon zweimal wegen möglicher Brandstiftung und Versicherungsbetrugs ermittelt.

Die beiden Alten – manche behaupteten, sie seien weit über achtzig – waren selbst vor Ort, sie standen wie Figuren auf der Ladefläche eines LKWs, ihre Gesichter wirkten im Schein der Flammen rot, hölzern, zum Äußersten entschlossen. Gleichzeitig aber auch verbraucht und alles andere als sympathisch. Allein ihre Nasen waren riesig und sahen aus, als seien auch sie aus Holz und jemand hätte die Spitze abgeschlagen. Wer es vorher noch nicht wusste, sah spätestens jetzt, dass die alten Larousses eineiige Zwillinge waren. Viele Einwohner von Courcelles hatten sie noch nie gesehen. Und das obwohl sie die wichtigsten Arbeitgeber der Stadt waren. Stets hatten sie sich von allem ferngehalten, alle Einladungen zu Feierlichkeiten der Stadt ignoriert. Nun, da sie sich zeigten, wirkten sie wie aus einer längst vergangenen Welt. Ihr Großvater hatte diese Halle erbaut, in einer Zeit, als die Lastkähne den Canal de Songe noch von Pferden hinaufgetreidelt wurden. Hier hatte man schon vor hundert Jahren Waren umgeladen und gelagert. Die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg war ein erstes goldenes Zeitalter für Courcelles gewesen, und mit dieser Halle, das lernte hier jedes Kind, hatte der Aufstieg des Ortes begonnen und natürlich auch der Aufstieg der Familie Larousse.

So hatten nicht wenige der etwa hundert Schaulustigen zunächst mehr Interesse an den beiden menschlichen Statuen als an dem Brand selbst. Richtung Feuer blickten sie erst, nachdem sie sich an den Alten sattgesehen hatten. Auch Lou war unter den Gaffern, auch sie glotzte die beiden eine Weile an. Was sie sah, bestätigte, so sehr sie sich auch dagegen sträubte, einen der Lieblingssätze ihrer Mutter.

»Es gibt Solche und Solche.«

›Idiot!‹ Lou glaubte ganz fest, dass Philippe für all das verantwortlich war, denn dass man diesen Ausbeuterbetrieb abfackeln müsse, hatte er ja erst vor ein paar Tagen laut verkündet. Und so schwankte sie erneut zwischen Gefühlen. Zum einen befürchtete sie, dass Philippe nun tatsächlich kriminell geworden war, zum anderen sah es aber auch so aus, als sei er dabei, das zu vernichten, was auch sie behinderte. Den Fluch der Familien. Das Unverrückbare.

Doch es gab in dieser Nacht keinen Untergang des Alten.

Zum Glück hatte man in der Halle nur sechs Tonnen Briketts und viel Teerpappe gelagert. So gelang es den Feuerwehren aus Avondville und Fleurville, den Brand unter Kontrolle zu bringen, ehe der Dachstuhl und die Wände der altehrwürdigen Halle gefressen wurden. Am Ende ergab sich nur ein Loch von etwa drei Metern Durchmesser genau in der Mitte des Dachs.

Trotz der guten Arbeit der Feuerwehr konnten die Brandermittler am nächsten Tag nicht eindeutig feststellen, was die eigentliche Ursache des Brands war. Er hatte an einem Stapel Teerpappe begonnen. Ob da nun aber gezündelt wurde oder ob es einen Kurzschluss in der uralten elektrischen Anlage gegeben hatte, ließ sich nicht mehr eindeutig feststellen.

Philippe wurde vernommen, nachdem drei aus seiner Klasse auf der Gendarmerie ausgesagt hatten, er habe gefordert, man müsse dort Feuer legen.

»Das würde ich beschwören, dass er das gesagt hat.«

»Ich auch.«

Man ließ ihn gehen, nachdem Lou erklärt hatte: »Er war bei mir, er kann es nicht gewesen sein.«

Diesmal kam Gendarm Conrey mit einem konkreten Verdacht nach Courcelles. Er hielt es für möglich, dass in dem alten Lagerhaus illegale Arbeiter übernachtet hatten.

Nur fanden weder die Brandermittler noch die Fachleute von der Spurensicherung auch nur den kleinsten Hinweis auf solche Übernachtungen. Die Staatsanwältin von Fleurville ließ sich daher nicht überzeugen, einen Durchsuchungsbefehl für die Büros der Spedition zu unterschreiben.

Als die Gazette de Courcelles von Conreys Verdacht erfuhr, berichtete sie trotzdem. Bei dieser Gelegenheit kam auch heraus, dass es bis jetzt nicht gelungen war, den Toten hinter der Leitplanke zu identifizieren. Nun wurde erneut geredet und spekuliert. Der Brand, das gestohlene Obst, der überfahrene Fremde, das Zelt im Wald, ja sogar der Junge, der sich am Steinbruch erhängt hatte, wurden in Beziehung gesetzt und als Indizien einer sich im Stillen steigernden Gefahr gewertet.

Doch wie der Teufel es will, ausgerechnet ab dem Moment, da alle die Augen aufhielten, da alle geradezu auf ein Verbrechen warteten, geschah nichts mehr. Nirgends brannte es, nirgends wurde eingebrochen, keine verdächtigen Gegenstände wurden gefunden, keine fremden Menschen liefen im Wald herum. Die Tage waren zwar weiterhin überdurchschnittlich warm, und das Holz im Wald war knochentrocken, doch das Feuer aus Gerüchten und Verdächtigungen bekam keine neue Nahrung und erlosch.

Für Philippe und Lou, ja für die ganze Abiturklasse des Gymnasiums hatte der Brand der alten Lagerhalle trotzdem gravierende Folgen. Unter den Schülern wurden immer mehr Stimmen laut, die sicher zu wissen meinten, dass Philippe der Brandstifter war und Lou ihn mit ihrer Falschaussage gedeckt hatte.

»Die macht alles für ihn, die ist ihm hörig.«

»Red keinen Scheiß, du kennst Lou doch gar nicht.«

Die Klasse war zuletzt tief gespalten, es kam zu zwei Schlägereien. Bei der zweiten dieser Prügelaktionen zeigte sich, dass ein bis jetzt eher unauffälliger Junge namens Henri ein ganz anderer war, als man bis dahin dachte. Der Angriff auf seinen Kontrahenten war so zielgerichtet gewesen, die Verletzungen des Opfers so gravierend, dass er der Schule verwiesen wurde und die Staatsanwaltschaft Anklage wegen versuchten Totschlags erhob.

Nach diesem Schock – Henri galt als einer von denen, die ihm stets das Schlimmste unterstellt hatten – war Philippes Ruf als Denker des Unerhörten unter seinen Anhängern wieder gestärkt. Man urteilte nun nachsichtiger über seine menschenverachtenden Thesen im Zusammenhang mit der Schweinelastergeschichte. Monsieur Theron trug ebenfalls seinen Teil dazu bei, dass man wieder besser über seinen Lieblingsschüler sprach. Zwei volle Stunden verwendete er darauf zu erläutern, wie aus Gerüchten Verdacht und zuletzt eine Art von Verrat wird.

So wurden Philippes vorher noch als menschenverachtend eingestuften Aussagen zu etwas Strahlendem, ähnlich einer Fackel der Freiheit, die, so Theron, »hinter die falsche Maske bürgerlicher Feigheit leuchtet«.

Ob es nun dem einen glaubhaft erscheint und dem anderen nicht, spielt keine Rolle. Es ist festzustellen, dass nach den beiden Prügeleien und dem Schulverweis des brutalen Schlägers wieder Ruhe einkehrte und Lous Klasse sich, als sei nie etwas geschehen, auf die anstehenden Prüfungen vorbereitete. Dank dieser äußerlichen Entspannung zeigte sich zwischen den Stunden ein Bild, dem man den Titel ›Lachende Schüler auf einem Provinzschulhof‹ geben könnte, ohne damit etwas zu beschönigen.

Doch nicht alle schlossen sich dieser Beruhigung an. Anna war schon immer gegen Philippe gewesen, nun wendete sich auch Julien endgültig von ihm ab. Dass er das tat, lag nicht zuletzt an Lou.