›Idiotin! Du bist eine Idiotin!‹
Eigentlich hätte Lou gar nicht dort arbeiten dürfen.
Nicht um die Uhrzeit.
Und sicher nicht allein.
›Nicht nachgedacht, nur wow! gedacht.‹
Und an Philippe.
›Idiot!‹
Sie hatte zuerst Angst gehabt, dass etwas passiert, dass ihre Idiotie Folgen haben könnte, aber ihr ›wow!‹ und ihre Idiotie waren jetzt schon drei Tage her, und nichts war geschehen. Da musste sie jetzt eben durch, und für den äußersten Notfall gab es ja immer noch die Pistole ihres Vaters.
Die Waffe lag friedlich und schwer in der Schublade mit den Quittungs- und Abrechnungsblöcken unter der Kasse. Diese Schublade zog Lou neuerdings auf, wenn ihre Schicht anfing.
Nur ein Blick.
Sechs, vielleicht acht Sekunden.
Sie registrierte die Form, abstrahierte die Funktionalität, als wollte sie die Waffe von sich entfremden.
Dann wieder zu.
›Idiotin!‹
Doch was nützte alles Fluchen, hier stand es schwarz auf weiß: »Jugendlicher Irrsinn oder Bandenkrieg? Toter an Tankstelle in Metz.«
Die Zeitung mit dem Bild lag vor ihr, direkt neben der Kasse. Lou las den Artikel.
»Gestern wurde eine Tankstelle am Ortsausgang von Metz überfallen. Es gab einen Toten, der noch vor Eintreffen der Rettungskräfte an seiner Schussverletzung starb. Zwei junge Männer waren gegen 21.30 Uhr mit einem blauen VW Golf auf das Gelände der Tankstelle gefahren und hatten ihren Wagen vor einer Zapfsäule …«
Sie las schneller, wollte die Details gar nicht wissen.
»… um ein Fahrzeug handelt, das am 9. Juni in Nancy gestohlen … der Tote hatte keine Papiere bei sich und konnte bis jetzt noch nicht identifiziert … von einigen Zeugen ein weiterer Täter beobachtet … noch flüchtig … laut Mitteilung der Police Nationale etwa siebzehn Jahre alt, etwa eins achtzig groß, mit hellbraunem, fast blondem Haar …«
Lou warf die Zeitung zurück. Sie kannte die Tankstelle, denn die lag, genau wie ihre, an der Rue Fleurville.
›Idiot!‹
Eigentlich hatte sie das dringende Bedürfnis, mit Philippe zu sprechen. Gleichzeitig fragte sie sich, wie gut sie ihn überhaupt kannte, wie gut man jemanden überhaupt kennen kann. Lou glaubte noch immer nicht, dass Philippe wirklich kriminell war … ›Eine Dummheit, einer seiner verrückten Gedanken …‹ aber dann fiel ihr ein, dass sie ihn beim Brand der Lagerhalle auch schon in Verdacht gehabt, seinetwegen sogar eine Falschaussage gemacht hatte. Vielleicht sollte sie sich mit Julien beraten. ›Der hat immerhin versucht, mich zu warnen, nur … Julien würde Philippe sofort der Polizei melden.‹
Lou dachte so lange im Kreis, bis sie total erschöpft war. Nervös war sie außerdem, beobachtete die Kunden genauer als früher, blickte öfter auf ihre Uhr.
21.30 Uhr, in einer halben Stunde würde sie die rahmenlosen Glastüren zum Verkaufsraum verriegeln. Von da an lief der Waren- und Geldverkehr über die große Schublade. Die Kunden kamen dann nicht mehr rein, wollten aber immer noch kaufen. Was bedeutete, dass sie mehr laufen musste.
Störte sie nicht.
Im Gegenteil, wenn sie lief, dachte sie an etwas anderes als Gefahr, dann schaffte sie es sogar sich einzubilden, alles sei noch so wie vor ein paar Tagen.
Problematisch wurde es, wenn sie sich langweilte. Zum Glück gab es ein Telefon. Zum Glück wurde sie manchmal angerufen.
»Hi, Julien. – Nein, ich bin nicht mehr böse. – Na, was wohl? Ich stehe hinter der Kasse. – Ja, morgen hab ich frei. – Ja, gute Idee.« Sie lachte, und das geschah nicht mehr oft. »Ja, Julien, ich möchte auch mal wieder Billard spielen, ich komme gerne ins Paris. Wie? – Nein, mit Philippe habe ich nicht gesprochen, schon seit ein paar Tagen nicht. – Ja, hab ich gelesen. – Nein, ich glaube nicht, dass Philippe was damit zu tun hat. Ganz bestimmt nicht, glaub mir.«
Das Paris war die einzige Kneipe in Courcelles, in der sich Leute ihres Alters treffen konnten und Alkohol bekamen, ohne immer kleinlich nach einem Ausweis gefragt zu werden. Einer der Barmänner spielte Musik, die uralt war. Musik, die Lou gefiel.
21.50 Uhr.
Sie hatte gerade die Waren in den Regalen geordnet, als ein junger Mann mit einer teuren Wildlederjacke hereinkam. Er sah sich um, als wollte er die Tankstelle kaufen. ›Ätzend …‹ Vom Aussehen her und auch vom Verhalten. Er kam mit Milch und Toastbrot zur Kasse, zeigte, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen auf das Regal mit den Zigaretten. Als er endlich raus war, schloss sie ab. Das Licht zwischen den Zapfsäulen kam ihr grünlich vor.
Lou schaltete das Radio ein, denn sie wusste, wann welche Sendungen liefen. Politik interessierte sie. Dank Monsieur Theron, und wohl auch ein bisschen dank Philippe.
»Idiot!« Sie hatte dieses Wort schon ein paarmal laut gesagt. Mal meinte sie Philippe, mal sich selbst und … Der mit der Wildlederjacke war echt arrogant gewesen. Sie dachte noch zweimal kurz an ihn, während sie zuhörte, was im Radio gesagt wurde.
Zeit verging ohne Belang. François Mitterrand und die Journalistin redeten jetzt schon seit zwanzig Minuten, und Lou wurde ein bisschen warm unter ihrer Strickmütze. In Politik hatten sie drei Doppelstunden lang über Mitterrand gesprochen, Monsieur Theron hatte gefragt: »Also, was meint ihr? Warum unterstützt der Sozialist Mitterrand den Front National?«
Lou fand, dass Theron ziemlich extremen, aber guten Unterricht machte, weil er das allgemein Politische immer mit dem verband, was gerade passierte. Ohne ihn hätte sie sich im Traum nicht für Mitterrand interessiert.
›Arschloch!‹
Dem Mann mit der Wildlederjacke musste eine Packung Heringe in Rote-Bete-Soße runtergefallen sein, und er hatte sie nicht aufgehoben. Manche Kunden meinten, es sei scheißegal, weil es sie einen Scheiß interessierte.
›Arschloch!‹
Vieles, über das sie nachdachte, war im Moment so: ›Arschloch!‹ Wenn alles nach Vorschrift liefe, müsste sie die roten Heringe natürlich entsorgen. Schließlich war die Kühlkette unterbrochen. ›Genau wie bei Mitterrand …‹ Ihr Stiefvater hatte ihr, was das anging, eindeutige Anweisungen gegeben.
»Leg die Sachen einfach dahin zurück, wo sie hinge hören.«
Er hatte nicht gesagt, es wäre scheißegal. Solche Ausdrücke hatte er sich vor drei Jahren abgewöhnt. Vier Monate auf Bewährung. Wegen Körperverletzung. Dabei hatte er gar nichts gemacht.
»Da reicht es, du schiebst einen aus dem Laden und der fällt hin!«
Im Moment war Lous Stiefvater nicht da. Er stand, wie sie, im Verkaufsraum einer Tankstelle. Gilles Larousse hatte ihm wieder auf die Beine geholfen, nachdem er zweimal einen aus dem Verkaufsraum seiner Tankstelle geschoben hatte, und dabei zweimal einer hingefallen war. Lou kennt Gilles Larousse, seit sie denken kann. Er und ihr Stiefvater hatten sich während ihrer Zeit beim Militär kennengelernt. Sie hatten in Algerien gekämpft, und da hatte ihr Stiefvater Gilles angeblich mal das Leben gerettet.
Plötzlich, die Bewegung war etwas abrupt, sah Lou zu den Zapfsäulen rüber. Nichts. Doch sofort war der Gedanke wieder da. Er stand in ihrem Kopf wie in Flammen gedruckt. ›Du bist eine Idiotin, das war Diebstahl, nur viel schlimmer, du kannst nur hoffen, dass niemand auf dich kommt …‹
Sie hätte die Nachtschichten nicht übernehmen müssen, aber sie brauchte das Geld. Wofür? Für ihre Flucht mit Philippe? Vielleicht könnte sie Julien und Anna davon überzeugen, dass sie das Auto dringender brauchte als irgendwer sonst. Einige aus ihrer Klasse hatten schon einen Wagen. ›Von denen musste aber niemand dafür arbeiten, und auch nicht klauen, weil ihre Familien …‹ Als Lou da angekommen war, mit ihren Gedanken, wurde sie bitter und zerbrach den Plastiklöffel, den sie seit fünf Minuten in ihrer rechten Hand drehte.
Und dachte an Geld.
Aber nicht so, dass sie Münzen oder Scheine vor sich gesehen hätte. Bei Geld dachte Lou immer an ihr Auto und ans Fahren. In letzter Zeit taten ihr viele Gedanken weh, weil sie ihr alle Auswege versperrten.
›Philippe ist echt … du musst weg von dem.‹
Aber wenn sie so schlecht von ihm dachte, warum stellte sie sich dann immer vor, dass er neben ihr sitzen würde, auf dieser Fahrt in die Freiheit?
Lou schob ihre Mütze hoch, und damit verschwand auch dieser Gedanke. Mit ihrer hässlichen Strickmütze sah sie wirklich äußerst unattraktiv aus. Absicht. Schließlich arbeitete sie hier allein, und nachts kamen … ›Jede Menge Arschlöcher und Araber‹.
Wieder drehte sie den Kopf nach links, weil … seit drei Tagen hatte sie ein überfeines Gespür, was Bewegungen draußen anging. Nach 22.00 Uhr tankten hier für gewöhnlich nur noch wenige. Es würde erst morgen früh um halb sechs wieder losgehen. Wenn die LKWs sich auf den Weg nach Osten machten.
Diesmal hatte sie sich nicht getäuscht. Da kam einer von den ganz Großen. Sie erkannte, wie weit die Scheinwerfer auseinanderstanden, schätzte, dass er wenigstens 180 Liter tanken würde. Vielleicht sogar 240.
›Falls er aus Marseilles kommt …‹
Der Sattelschlepper bog auf die Tankstelle ein, die Kabine nickte wie zur Begrüßung, als er die steile Stelle runterfuhr. Zuletzt zischende Geräusche, ein charakteristisches Rucken.
Zwei junge Männer stiegen aus, gingen ein paar Schritte, steif in den Knien, und trafen sich vor dem hoch aufragenden Kühler.
›Araber? Algerier …?‹
Für sie waren Araber und Algerier im Grunde das Gleiche. Ihr Stiefvater hatte da Sätze gesagt! Und sein Kumpel Gilles Larousse war ein Rassist. Ein echter, nicht so ein Pseudo wie Philippe. Jedenfalls wenn man seine Sprüche ernstnahm und den Anspruch so hochschraubte wie Monsieur Theron. Seit einiger Zeit kamen immer öfter solche hier durch. Die mit Containern, meist aus Marseilles. Es gab aber auch welche aus Belgien.
Die beiden vor dem Laster kamen ihr ein bisschen unheimlich vor, denn es war ja nicht so, dass die Sprüche, die sie so hörte, völlig an ihr abgeprallt wären.
Was solche wie die schon so alles zu ihr gesagt hatten. Trotz der hässlichen Mütze. Nein, ihr Vater und sein Kumpel Gilles lagen sicher nicht ganz falsch, und Monsieur Theron, der war ja auch nur ein Theoretiker. ›Einer, der an das Gute glaubt, weil er Tankstellen und solche wie diese beiden eben nicht kennt.‹ Trotzdem war auch Theron in ihren Augen ein Extremist. Sie selbst würde jedenfalls nicht sagen, dass Mitterrand gefährlich ist, nur weil er sich für die demokratisch verbrieften Rechte des Front National eingesetzt hatte, also für mehr Sendezeit beim Fernsehen. Darüber sprach die Journalistin im Radio noch immer mit ihm. Dabei wusste doch jeder, was los war. Mitterrand unterstützte den Front National in Sachen Sendezeit, damit der seinem Kontrahenten Chirac ein, zwei Prozent Stimmen abjagen konnte. Das würde schon reichen, damit Mitterrand weitermachen könnte. Das war reine Taktik und hatte nicht das Geringste damit zu tun, dass er mit denen sympathisierte.
»Arschlöcher!«
Die beiden jungen Männer standen noch immer vor ihrem LKW. Sie waren ihr inzwischen richtig unheimlich. ›Die tun doch nur so, als würden sie miteinander reden. Warum sollten sie? Die sitzen doch sicher seit Stunden nebeneinander. Checken die ab, ob wer in der Nähe ist?‹
Jetzt schien alles klar zu sein. Der eine ging zur Zapfsäule und begann zu tanken. Den anderen sah sie nicht mehr.
Die Tür war zu, die Scheiben waren dick, und im Grunde hatte sie doch nichts gegen Algerier oder Araber. Schließlich hatte Monsieur Theron ihnen genau erklärt, warum die hier waren.
Trotzdem zog sie die Schublade auf.
Fast zwanzig Sekunden starrte Lou auf die Pistole.
Seit sie im alten Steinbruch geschossen hatten, wusste sie alles Wichtige über Waffen. Zum Beispiel, dass die kalt sind, wenn sie gelegen haben, zum Beispiel, dass man mit dem Rückstoß aufpassen muss, vor allem aber wusste sie, dass eine gesicherte Waffe einem nicht das Geringste nützt.
Sie griff in die Schublade. Nach einigen Sekunden kam ihre Hand wieder raus. Ohne Waffe. Aber sie sah immer noch runter. Dann rüber, zu dem Mann, der seinen LKW betankte, dann wieder runter.
Schließlich schob sie die Schublade ein Stück weit zu.
Ihre Mutter hatte vor einigen Jahren mal etwas sehr Schönes gesagt. Über ihren leiblichen Vater. Sie hatte nur dieses eine Mal über ihn gesprochen. Das war in der Zeit gewesen, als Lou immer besser in der Schule wurde. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass er wohl Arzt oder so was war. Jedenfalls hatte er das so gesagt. Lous Mutter hatte damals im Paris gearbeitet. Hinter dem Tresen gestanden und dafür gesorgt, dass die Stimmung gut war. Kaum vorzustellen, so, wie sie sich heute aufführte mit ihrer ewigen Heulerei.
»Leider waren dein Vater und ich nur sehr kurz zusammen, eigentlich nur zwei Tage …«
Ihre Mutter hatte damals für ein paar Wochen so hoffnungsvoll und positiv geklungen. Leider war sie dann wieder in das Verhängnis der Familie zurückgefallen. Über Armut sprach sie ja sowieso gerne und über Schicksal.
›Da ist etwas in mir‹, das fühlte Lou. Vielleicht etwas, das sie von ihrem leiblichen Vater geerbt hatte. Denn manchmal spürte sie eine Kraft, die über alles, was sie im Moment war, hinausging und ihr unglaublich Mut machte. Eine Kraft, die nur noch nicht richtig wusste, wo sie hin sollte. Aber das würde sich schon zeigen, da war Lou sich ganz sicher.
Der junge Mann draußen tankte noch immer, der andere stand jetzt neben ihm. Sie wirkten eigentlich ganz normal. Also konzentrierte sich Lou, während sie die beiden ein bisschen im Auge behielt, wieder auf das, was François Mitterrand zu seiner Verteidigung zu sagen hatte.
›Irgendetwas wird noch passieren in meinem Leben …‹
Als Lou das entschieden hatte, sah sie wieder das Bild der Straße, auf der sie bald fahren würde. Philippe saß neben ihr, und es war Nacht in ihrem Traumbild. Sie hatte das Fernlicht eingeschaltet, die Fahrbahn wurde weithin ausgeleuchtet, die Mittelstreifen zogen unter ihnen weg. So stellte sie sich das immer vor. Ihre gemeinsame Fahrt in ein neues Leben. Trotz allem, trotz ihrer Idiotie.
Mitterrand war noch immer nicht fertig.
Die beiden Männer näherten sich dem Verkaufsraum.
Der eine hielt den Kopf gesenkt, der andere blickte schräg hinter sich, Richtung Straße.