Die Hähne hatten längst aufgehört zu krähen und saßen mit ausgebreiteten Flügeln in staubigen Mulden, Autos fuhren mit gemäßigter Geschwindigkeit über den heißen Asphalt, sieben Menschen bildeten auf dem Trottoir eine kleine Traube und sprachen miteinander, wobei einer immer wieder in einen Birnbaum zeigte, in dem sich ein Bienenschwarm niedergelassen hatte. Das alles bei 38 Grad im Schatten.
Auch im Inneren der Gendarmerie Courcelles herrschte große Aufregung. Man hatte ihnen bis jetzt untersagt, in dem Fall zu ermitteln. Commissaire Bagrange machte das seinen Männern gleich am Morgen nach der Schießerei deutlich: »Ich lese euch den wichtigsten Satz vor, damit für jeden ganz klar ist, wie man über uns denkt: ›… um die Untersuchungen der Police Nationale nicht zu gefährden …‹«
Murren und Gemurmel. Dass man sie ausschloss, kränkte sie. Schließlich war das Verbrechen in Courcelles begangen worden, sie fühlten sich zuständig.
»Heute wird sich das ändern«, hatte Bagrange am Morgen versprochen. »Jetzt kommen wir wieder ins Spiel.«
Wie, das wusste noch keiner. Bagrange hatte bis jetzt nur verraten, dass sie einen neuen Kollegen bekommen würden.
Der Raum war gut gefüllt. Brigadiers und Lieutenants aus Belleville, Avondville und Fleurville waren anwesend, dazu ein Journalist von der Gazette de Courcelles, zwei aus Nancy und einer aus Metz. Ein mediales Ereignis dieser Größenordnung hatte es in Courcelles noch nie gegeben.
»Die beiden Opfer passen überhaupt nicht zusammen«, hatte Ohayon seinem Chef, Commissaire Bagrange, eben zu erklären versucht und dann von Schuhen, Händen, sowie mehreren Blättern Fließpapier gesprochen, die er gesichert habe. Bagrange hatte nicht weiter nachgefragt, denn die Überlegungen seines kleinen Gendarmen waren, das wusste er, manchmal etwas abwegig.
Zum Glück sagte Ohayon nun etwas, das Bagrange verstand: »Dieser Reporter aus Metz soll ein ganz Wichtiger sein. Normalerweise berichtet er wohl über Politik. Warum ist der da? Wegen einer Schießerei? Steckt da was Größeres dahinter? Und wer ist dieser Mann, auf den wir warten?«
»Wie ich dir schon sagte, euer neuer Kollege. Er hat bis jetzt für die Gendarmerie in Metz gearbeitet. Vom Dienstgrad her ist er zwar nur Brigadier, hat aber eine abgeschlossene juristische Ausbildung.«
»Ein Brigadier mit einer juristischen Ausbildung, das ist ja …!«
»Unser Neuer hat wenig Erfahrung, was Polizeiarbeit angeht. Das möchte er nun bei uns nachholen. Als ich gestern mit ihm sprach … Wo bleibt er denn?«
»Als Sie mit ihm sprachen?«
»Musste ich an dich denken. Weil ihr sozusagen die eine und die andere Seite einer sehr besonderen Münze seid. Heißt, ihr seid das genaue Gegenteil voneinander.«
»Und wie meinen Sie das?«
»Unser Neuzugang ist sehr organisiert und mit Sicherheit hochintelligent.«
Es hatte sich eingebürgert, dass Ohayon seinen Chef mit »Sie« ansprach, während der ihn duzte. Hinter diesem scheinbaren Machtgefälle, oder wie man es nennen möchte, steckte nicht mehr als Ohayons Gefühl, dass Bagrange so etwas wie sein Lehrer sei. Nicht im Sinne eines Vaters, das wäre zu viel des Guten. Bagrange jedenfalls hatte Ohayon während der ersten Wochen mehrfach ermutigt, ihn zu duzen. Es gehörte nun aber zu Ohayons Wesen, dass er von bestimmten Angewohnheiten partout nicht abzubringen war.
»Unser Neuzugang ist ein guter Mann, glaub mir, Ohayon. Nur hat er sich in Metz ein bisschen vergaloppiert. Aber er ist noch jung, und er spricht ganz offen über seine Fehler. Der wird sich hier gut einfügen, du wirst sehen.«
»Und wieso haben die in Metz einen Brigadier zum Pressesprecher gemacht?«
»Er ist kein Pressesprecher, sondern jemand aus der Verwaltung. Und er weiß mit Sicherheit mehr als wir über diese Tankstellengeschichte, da die Police Nationale mit den Kollegen in Metz sehr viel enger zusammengearbeitet hat als mit uns. Dieses Wissen bringt er gewissermaßen mit. Ah, da ist er ja.«
Tatsächlich betrat gerade ein schlanker und zudem ungewöhnlich großer Mann den Raum. Commissaire Bagrange ging ihm entgegen, und sie sprachen kurz miteinander. Ohayon wunderte sich, wie ehrerbietig sich Bagrange dabei zeigte.
Der Neuzugang, fand Ohayon, hatte so gar nichts Polizeiliches, auf ihn wirkte er eher wie eine Mischung aus Dressman und Verwaltungstier.
Als der Dressman mit Bagrange fertig war, ging er nach vorne zum Mikrofon. Man hatte sogar ein kleines Podest für ihn aufgebaut.
»Ich beginne ohne Vorrede. Zwei Schießereien. Eine in Metz, eine hier in Courcelles. Beide haben an Tankstellen stattgefunden, beide Tatorte liegen am Stadtrand, in unmittelbarer Nähe zur Autobahn. Da lag zunächst der Verdacht nahe, und so stand es ja auch in den Zeitungen, dass wir es mit dem Beginn einer Serie, das heißt einem größeren Zusammenhang zu tun haben könnten. Daher hatte ja auch, dem juristischen Prozedere folgend, die Police Nationale den Fall übernommen.«
Ohayon musste zugeben, dass der Brigadier aus Metz ordentlich reden konnte. Seine Stimme hatte zudem eine gewisse Straffheit, ohne einem dabei auf die Nerven zu gehen.
»Inzwischen geht die Police Nationale davon aus, dass zwischen den beiden Vorgängen keine Verbindung besteht. Das Opfer in Metz wurde vermutlich vom Pächter der Tankstelle erschossen. Ein missglückter Raubüberfall. Der Pächter wird zur Zeit noch vernommen, aber er ist eingetragener Besitzer der Waffe, aus der das Projektil stammt, mit dem der Angreifer getötet wurde. Der war mehrfach vorbestraft und hatte sich auf Tankstellen spezialisiert. Hier in Courcelles dagegen war offenbar niemand auf Geld aus, die Verkaufsstelle blieb unangetastet. Es wurden insgesamt 16 Patronenhülsen gefunden, während in Metz nur ein einziger Schuss abgegeben wurde. Der Vorfall hier wirkt eher wie ein ungeplantes Zusammentreffen verfeindeter Personen mit anschließendem Rumgeballere, wenn ich es mal so nennen darf. Der flüchtige Täter war zudem recht weit von den Opfern entfernt, sagen die Ballistiker. Auch das ist ein Hinweis darauf, dass das Ganze eher spontan geschah. Die Toten waren vermutlich algerischer Abstammung, aber es gibt bis jetzt keinerlei Hinweis auf die Vorbereitung terroristischer Aktivitäten, wie in einigen Zeitungen zu lesen war. Die Police Nationale wird den Vorgang daher nicht weiter verfolgen, das ist jetzt Sache der Gendarmerien. Also Ihre Sache, Commissaire Bagrange. Und ich denke, der Vorgang ist bei Ihnen in guten Händen.«
Kopfwendung einiger. Commissaire Bagrange stand da, mit leicht gerötetem Kopf und einiger Zufriedenheit im Gesicht. Leider wurde dieser schöne Moment von dem Journalisten aus Metz unterbrochen.
»Monsieur Colbert, eine Frage …«
»Ah, Monsieur Doute. Hat man Sie extra aus Metz hergeschickt?«
»Ja, und Sie auch, Monsieur Colbert. Dabei geht es doch hier weder um Politik noch um Fragen einer Neugestaltung der Verwaltung.«
Die beiden Journalisten aus Nancy lächelten.
»Ich war, wie Sie wissen, Mitarbeiter der Gendarmerie Metz und bin gekommen, um meine neue Dienststelle über den Stand der Ermittlungen zu informieren.«
»Auch das wundert mich, Monsieur Colbert. Ich meine, dass Sie offenbar den Wunsch haben, weiterhin bei den Polizeikräften tätig zu sein …«
Die beiden Journalisten aus Nancy lachten jetzt offen, einer stand kurz davor zu applaudieren.
»… ich hätte Sie eher in der Politik erwartet. Als Staatssekretär, als Lobbyist oder in der Rolle eines eloquenten Technokraten, der es versteht, große Geldsummen so umzuleiten, dass sie der Verwaltung sowie der datentechnischen Ausstattung unserer Polizeikräfte zugute kommen …«
Jetzt war Ohayon einiges klar. Er hatte sich schon gefragt, ob das hier eine Pressekonferenz war. Aber die drei Journalisten waren nicht wegen der Schießerei hier, sondern weil sie offenbar an diesem Brigadier Colbert interessiert waren. Und der ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
»Ich weiß, dass Ihnen meine Art aufstößt, Monsieur Doute, ich weiß, dass Ihnen jede Art von Innovation zuwider ist, ich weiß auch, dass Sie glauben, ich hätte vor, Massen an Daten zu sammeln, um die Bevölkerung zu kontrollieren. Aber Sie tragen wie immer zu dick auf, und wir sind auch nicht hier, um über die dringend notwendige Neuordnung der Stadtverwaltung von Metz zu debattieren.«
»Nun, eins kann man immerhin sagen, Monsieur Colbert: Mit Ihnen hat die Gendarmerie Courcelles einen großen Fang gemacht, da kann man Commissaire Bagrange nur beglückwünschen. Wir werden in Zukunft sicher öfter von dieser Gendarmerie hören, denn hier werden sicher schon bald bemerkenswerte Dinge geschehen.«
»Ihr Zynismus ist wie immer entzückend, Monsieur Doute, nur bringt er uns in der Sache wie so oft keinen Millimeter weiter …«
Eine junge Gendarmin berührte Ohayon am Arm.
»In deinem Büro wartet einer der Zeugen, die an der Tankstelle waren. Seine Mutter ist auch da.«
»Okay.« Ohayon drückte sich vom Türrahmen ab und folgte ihr.