Die Mutter stand auf, als Ohayon den Raum betrat, der Junge blieb sitzen.
»Wer hat dich denn so verprügelt? Du siehst schlimm aus«, fragte Ohayon, als er sah, was er sah.
»Ich hatte Streit.«
»Mit einem Mädchen!«, erklärte die Mutter sofort. »Lou Batelier heißt die, und sie schlägt mit Fäusten. Lou ist nicht die Erste aus der Familie, die Schwierigkeiten mit dem Gesetz hat.«
»Wie heißt du?«
»Benoît.«
»Und du möchtest das Mädchen jetzt anzeigen?«
»Nein, das war ja meine eigene Schuld. Ich habe ihren Freund beleidigt, und da ist Lou eben wütend geworden. Außerdem hat sie sich schon bei mir entschuldigt und bei Albert auch. Der hat zwei ziemliche Dinger von ihr abbekommen.«
»Sie hat sich nacheinander mit zwei Jungen geprügelt?«
»Gleichzeitig. Albert wollte mir zu Hilfe gekommen.«
»Verstehe.«
»Was ist das für ein Mädchen?«, rief seine Mutter und brachte ihre Hände in eine Position, als wollte sie einen Ball fangen.
»Hör auf, Mama, ich hab dir schon tausendmal gesagt, dass Lou in Ordnung ist. Sagt Albert auch. Es war meine Schuld.«
»Hat diese Lou sich schon öfter geschlagen?«
»Nein. Wie ich sagte, ich habe ihren Freund beleidigt, und da ist sie …«
»Was hast du zu ihm gesagt?«
»Dass er ein Rassist ist und ein Arschloch.«
»Ist er ein Rassist?«
»Das weiß bei dem niemand genau. Ich glaube nicht. Ich hatte einfach zu viel getrunken.«
»Wer ist denn ihr Freund?«
Benoît schwieg.
»Wenn er ein Rassist ist …«
»Ist er nicht. Dieses Wort benutzt man sowieso viel zu oft, wenn Sie mich fragen. Ich ärgere mich inzwischen darüber, dass ich ihn so genannt habe. Philippe ist einfach so, der sagt oft Sachen, die mich auf die Palme bringen. Unser Lehrer meint, er sei unterfordert.«
»Verstehe. Und was willst du mir jetzt erzählen?«
Benoît kam nicht dazu auszusagen, denn seine Mutter musste zunächst etwas loswerden. »Er hat es uns erst heute gesagt. Er hat gefragt, ›warum kommen die denn nicht?‹ Niemand hat ihn zu der Schießerei an der Tankstelle befragt, man lässt so ein Kind völlig allein mit seinen Gedanken. Das ist unmöglich!«
»Soweit ich mich erinnere, nahm Ihr Sohn in Fleurville gerade an einem Gespräch mit einer Psychologin teil, als Ihr Mann ihn da rausgeholt hat.«
»Ach, mein Mann, hören Sie doch damit auf, jetzt geht es um Benoît und nicht darum.«
»Setzen Sie sich doch bitte. Darf ich Ihnen etwas bringen? Vielleicht Kaffee?«
»Nein. Er soll erst mal erzählen, was er gesehen hat. Also, jetzt sag, Benoît, sag.«
»Der vor dem Auto stand, also der, der erschossen wurde, hat angefangen. Ich hörte zuerst, dass gestritten wurde und dann hat der beim Auto eine Pistole rausgeholt und geschossen. Dann der andere. Ich war voll geschockt und bin einfach mit meinem Fahrrad auf der Straße stehen geblieben.«
Ohayon wollte wissen, wo genau Benoît gestanden hatte.
»Na da, wo man von der Straße abzweigen muss, wenn man auf die Tankstelle will. Da, wo es ein Stück runtergeht. Die Tankstelle liegt ja etwas tiefer als die Straße. Aber ich stand noch oben am Rand der Straße. Wissen Sie jetzt?«
»Ja.«
Benoît hatte zwar alles aus recht großer Entfernung beobachtet, aber offenbar aus einer Perspektive, aus der er den Schützen aus dem Auto gut sehen konnte.
»Der hat zuerst geschossen. Hundertprozentig. Ich habe ja das Mündungsfeuer seiner Pistole gesehen oder jedenfalls, dass sie hochzuckte. Ich hätte mich natürlich sofort verstecken sollen, aber das fiel mir in dem Moment gar nicht ein. Ich hatte nicht mal Angst, weil das kam ja alles so unerwartet. Na, und irgendwann ist der beim Auto dann umgefallen. Da wusste ich noch gar nicht, dass im Auto noch einer war, der auch getroffen wurde, denn das Auto sah ich ja nur von hinten. Die haben mich zum Glück nicht entdeckt. Der mit dem Motorrad ist dann abgehauen, zum Glück zur anderen Seite raus, sodass er mich nicht gesehen hat, da hatte ich echt Glück. Sagen die anderen aus meiner Klasse auch. Dass ich Glück hatte. Dass wir alle Glück hatten, dass wir nicht früher da waren. Er hatte leider einen Helm auf und ich konnte ihn nicht erkennen. Aber das war ein Motorrad, keine Enduro, wie Anna behauptet. Hundertprozent ein Motorrad.«
»Was hat denn Anna behauptet?«
»Dass es Philippe gewesen sein könnte, aber der fährt eine Enduro, kein Motorrad, der war es nicht.«
»Kennst du Philippe und Anna gut?«
»Wir kennen uns alle. Also alle, die da an der Tankstelle waren. Wir gehen in dieselbe Klasse und wollten Lou besuchen, weil die da Nachtschichten macht und sich oft langweilt. Ich kam aber von der anderen Seite, weil wir außerhalb von Courcelles wohnen. Und ich war zuerst da. Mich hat aber bis jetzt keiner befragt.«
»Und der mit dem Motorrad ist wohin gefahren?«
»Zur anderen Seite raus, die Rue Fleurville runter, Richtung Bahnhof, also ins Zentrum rein. Deshalb ist er ja den anderen auch entgegengekommen. Als er weg war, musste ich pinkeln, wahrscheinlich weil die Angst hochkam. Also bin ich kurz in den Graben und hab gepinkelt.«
»Es ist gut, Benoît, das interessiert die Polizei sicher nicht.«
»Nein, aber da ist noch was. Ich habe gehört, wie Lou bei der Psychologin gesagt hat, dass sie sich drinnen versteckt hat. Das stimmt nicht, denn nachdem der weg war und ich gepinkelt hatte, bin ich da sofort rein, nachsehen ob sie in Ordnung ist. Ich hab mich schon gewundert, dass die Tür offen ist, die macht Lou sonst nachts immer zu. Drinnen war sie nicht. Also habe ich nach ihr gerufen, und da kam sie. Aber sie kam vorne rein, so wie ich. Sie sagte nichts, sondern schloss sofort ab und rief dann die Polizei. Wir haben uns zusammen hinter dem Mittelregal versteckt. Erst da kamen die anderen, also Anna, Albert, Francesca, Claire und Fabien. Und dann auch die Polizei, das ging sehr schnell. Gendarmerie und Police Nationale. Na, Sie waren ja da und wissen …«
»Ihr habt einem Jungen zugewunken, der auf seinem Moped zweimal an der Tankstelle vorbeifuhr.«
»Das war Julien. Der hat sich nicht hingetraut. Wahrscheinlich weil Polizei da war.«
»Er hat Angst vor der Polizei?«
»Nicht Angst. Julien ist einer, der sich immer erst mal zurückhält, das wollte ich sagen.«
»Lou, ist das die, mit der du dich geprügelt hast?«
»Ja, aber wie ich schon sagte, das hatte nichts mit der Schießerei zu tun.«
»Und du bist sicher, dass der Mann aus dem Auto zuerst geschossen hat?«
Nun lieferte Benoît eine lange und wirklich sehr präzise Beschreibung aller Ereignisse. Und je länger sie dauerte, desto unklarer war, ob der Motorradfahrer wirklich geschossen hatte. Benoît hatte ihn eigentlich nur gesehen, als er gerade dabei war, seine Reifen mit Luft zu füllen. Und dann als er nach der Schießerei abfuhr.
»Mit voll aufgedrehtem Motor, der wollte da weg!«
»Auf welchen von den beiden hast du bei der Schießerei wirklich geachtet?«
»Na, auf den beim Auto, weil der ja zuerst geschossen hat. Ich hörte dann aber auch Schüsse, ohne dass bei ihm ein Mündungsfeuer zu sehen war. Da wusste ich, dass es noch einen geben musste, der schießt. Und dann ist der mit dem Motorrad ja auch weg wie einer auf der Flucht.«
»Aber, dass der Motorradfahrer wirklich da stand und geschossen hat …«
»Wer denn sonst?«
Jetzt reichte es der Mutter, sie nahm ihren Sohn in den Arm. »Und mit so was lässt man ein Kind tagelang allein! Das ist einfach unglaublich.«