»Mein Freund ist weg, Sie müssen ihn suchen.«
Selbst nach einem starken Kaffee war Ohayon noch nicht richtig wach. Er tat aber wie immer sein Bestes, versuchte alles mitzubekommen, denn das Mädchen redete sehr schnell.
»Wir waren gestern Abend auf einer Party und plötzlich hat Philippe mich einfach stehen lassen. Er ist dann die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen. Sein Vater weiß auch nichts. Aber dem ist das egal, er sagt, Philippe wäre schon immer so gewesen, dass er plötzlich zwei Tage weg ist.«
»Es geht also um Philippe?« Ohayon bemühte sich noch immer, wach zu werden.
»Natürlich um Philippe! Ich habe Angst, dass er irgendwas Verrücktes gemacht hat, denn er sagte gestern zweimal, dass er noch was Wichtiges erledigen muss.«
»Wie alt ist er?«
»Siebzehn.«
»Normalerweise warten wir erst mal …«
»Worauf? Dass was passiert? Er war oft oben bei den alten Kliniken, aber ich komm da nicht rein. Bitte. Mit Philippe ist irgendwas, das spüre ich.«
Sie spürt etwas. Andererseits lassen Gendarmerien für gewöhnlich erst mal etwas Zeit verstreichen. Schließlich ist es fast immer falscher Alarm. Nun laufen aber in einer Kleinstadt wie Courcelles die Dinge anders als zum Beispiel in Paris oder Marseille. Dort wartet man ab, wenn xy mal nicht nach Hause kommt. In Courcelles aber kennt jeder jeden. Also lief es so: Obwohl er noch nicht ganz auf dem Damm war, und obwohl es eigentlich üblich war und so weiter, rief Ohayon seine Kollegen an und informierte sogar noch die Feuerwehren von Avondville und Fleurville.
Ohayon, Roland Colbert und eine der Suchmannschaften inspizierten als Erstes die alten Kurkliniken oben auf dem Wall. Selbst Commissaire Bagrange fuhr mit hoch. Schon nach zehn Minuten wurden sie von zwei Feuerwehrmännern gerufen.
»Wir dachten, dass solltet ihr euch mal ansehen.«
Der Raum war etwa dreißig Quadratmeter groß, weiß und kahl. Hier hatten mal Kranke gelegen, das roch man selbst jetzt noch. Es gab zwei Fenster.
»Das erklärt einiges«, sagte Ohayon mehr zu sich selbst.
»Habt ihr die denn bei der letzten Durchsuchung nicht gefunden?«, fragte Bagrange.
Ohayon nahm eine der Filzdecken hoch und roch daran. »Die liegen hier nicht seit acht Jahren.«
»Sind das überhaupt Decken?«
»Solche Filzmatten verwendet man bei Umzügen. Speditionen benutzen die.«
»Möglicherweise übernachten hier also doch Menschen.« Roland Colbert hätte das nicht unbedingt sagen müssen, es war Ohayon längst klar.
In diesem Moment war draußen ein wildes Hupen zu hören. Ohayon ging zum Fenster, öffnete es. Unten stand ein altes knallrotes Peugeot Cabriolet, in dem vier Jugendliche saßen.
Als er beim Wagen ankam, erkannte er als Erstes Claire. Sie saß auf dem Beifahrersitz und weinte so heftig, dass sie fast keine Luft mehr bekam. Neben ihr am Steuer Julien und auf der Rückbank Anna und Lou. Lous Blick sah aus, als wollte er über den Rand des Universums hinausgehen. Ein Blick, der jedem, der zu Mitgefühl fähig ist, wie ein Messer ins Herz gehen musste.
Nur Anna war halbwegs gefasst. »Wir haben Philippe gefunden.«
»Unten …«, heulte Claire dazwischen.
»Er liegt im Steinbruch. Ich glaube, er hat sich von oben da reingestürzt.«
»Nein …« Claires Stimme war kaum mehr als ein Röcheln.
»Okay«, entschied Ohayon. »Einer unserer Leute bringt euch nach Hause. Eure Eltern sind da?«
»Wir haben ein Auto, warum soll uns einer nach Hause bringen«, fragte Julien.
»Weil du aussiehst, als wärst du ziemlich durcheinander.«
»Hat das was mit der Schießerei zu tun?«, fragte Claire. »Hat jemand Philippe ermordet?«
»Eins nach dem anderen. Wir werden uns das erst mal ansehen…«
»Das tun wir nicht«, unterbrach ihn Roland mit einiger Schärfe. Er wartete Widerspruch gar nicht erst ab, sondern ging zu einem der Einsatzwagen, um zu telefonieren. Als er zurückkam, erklärte er: »Ich habe einen Freund in Metz angerufen, der gute Verbindungen hat. Wir sollten das mit der Spurensicherung nicht selber machen, wir brauchen die besten Spezialisten, die es für so was gibt. Metz wird uns Professor Percier und sein Team schicken, die sind in zwei Stunden da. Bis dahin sperren wir weiträumig ab.«
Am Abend fuhr Ohayon zu Lous Eltern. Ihre Mutter war nicht in der Lage, mit ihm zu sprechen, offenbar hatte sie das Erlebnis ihrer Tochter so stark mitgenommen, dass sie viel Rotwein trinken musste, um ruhig zu werden. Zum Glück war Lous Stiefvater Herr der Lage. »Lou liegt im Bett, und dass es ihr nicht gutgeht …«
»Versteht sich. Könnte ich trotzdem kurz mit ihr sprechen?«
»Nein.«
»Hat sie irgendetwas gesagt?«
»Sie hat mir nur erzählt, wie sie und ihre Freunde Philippe gefunden haben.«
»Und sie spricht vernünftig darüber? Das war jetzt etwas ungeschickt ausgedrückt …«
»Ich kenne meine Tochter. Sie leidet, aber sie ist stark.«
»Sie würden Hilfe holen, wenn es ihr schlechter geht.«
»Natürlich. Sie hat vorhin etwas gesagt, das ich schon als Zeichen der Besserung nehme. Sie sagte: ›Die Gefühle sind echt, aber die Liebe bringt uns manchmal dazu, die Dinge so zu sehen, wie wir es wollen, das ist eine Art von Betrug.‹«
»Was meint sie damit?«
»Sie fängt an zu begreifen, dass jemand für immer gegangen ist, den sie geliebt hat. Lou und Philippe, das war ja schon etwas sehr Enges. Ich finde es jedenfalls gut, dass sie über ihre Gefühle nachdenkt und nicht irgendwem die Schuld gibt. Wer weiß schon, warum Philippe das gemacht hat? Wenn Sie nicht irgendwo so etwas wie einen Abschiedsbrief finden, wird man das wohl nie wissen. Sein Vater tut mir leid, der hat vor ein paar Jahren seine Frau verloren und jetzt das.«
Ohayon brauchte einen Moment um zu verarbeiten, was eben gesagt wurde. Er wurde nicht ganz schlau daraus. ›Die Gefühle sind echt, aber die Liebe bringt uns manchmal dazu …‹ Der Satz war so lang. Ohayon konnte sich nicht vorstellen, wie ein Mädchen in Lous Alter auf so was kam.
Als Ohayon vor dem Haus stand, dauerte es noch mal eine Weile, bis er den Satz wieder richtig zusammen hatte. »Die Gefühle sind echt, aber die Liebe bringt uns manchmal dazu, die Dinge so zu sehen, wie wir es wollen, das ist eine Art von Betrug.«
›Warum Betrug?‹ Ohayon fragte sich außerdem, wie Lous Vater so einen langen Satz überhaupt behalten konnte, und kam schließlich zu dem Schluss, dass Lou ihn möglicherweise ein paarmal gesagt hatte.
Ein Auto hupte. Es war Roland Colbert.
»Wird bald dunkel, und Bagrange will, dass wir weiter die Kliniken observieren.«
Als Ohayon einstieg, hatte er den Satz bereits vergessen.