Der Auftrag, ein Traum

Lou war krank gewesen. »Leer«, hatte sie gesagt, wenn ihr Stiefvater an ihrem Bett gesessen und gefragt hatte, wie es ihr geht. Einmal war sie für drei Stunden weg gewesen und ganz verheult nach Hause gekommen.

»Du musst was essen, Lou.«

»Keinen Hunger.«

»Suppe?«

»Keinen Hunger, lass mich in Ruhe.«

Erst am dritten Abend, nachdem ihre Mutter das Haus verlassen hatte, war sie ins Wohnzimmer gekommen.

»Hi.«

Ihr Stiefvater hatte versucht, mit ihr über Philippes Tod zu sprechen, spürte aber bald, dass er nicht an sie rankam. Dabei hatten sie sonst immer einen guten Draht zueinander gehabt. Immerhin. Lou wirkte auf ihn nicht mehr so betäubt wie während der letzten Tage.

»Komm.«

Sie gestattete ihm, sie ein bisschen zu trösten. Er war der einzige Erwachsene, dem sie wirklich vertraute. So war es schon immer gewesen. Trotzdem lenkte Lou das Gespräch bald in eine bestimmte Richtung. Ihr Stiefvater erschrak. Und so antwortete er schärfer als gewollt.

»Halt dich von Gilles fern.«

Lou sah ihren Stiefvater an, er fand ihren Blick kalt.

»Hat er Philippe da runtergestoßen?«

»Was?«

Eine Pause entstand, er sah sie nicht an.

»Hat er Philippe da runtergestoßen?«

»Ich werde das klären, Lou. Aber bleib die nächsten Tage im Haus.«

»Warum gehst du nicht zur Polizei, wenn du was weißt?«

»Ich weiß nichts.«

»Doch.«

»Geh jetzt schlafen, Lou. Du hast deinen Freund verloren. So schnell, wie du meinst, geht das alles nicht.«

»Ich bin nicht müde.«

Sie erzählte ihm nicht, dass sie wieder über der Wolfsschlucht gestanden hatte, diesmal entschlossen zu springen. Sie hatte die Augen geschlossen und ganz doll an Philippe und seinen Sturz in den Steinbruch gedacht. Umsonst, sie hatte es nicht geschafft, sich das Leben zu nehmen.

»Du bist müde, Lou, du merkst es nur nicht. Ich werde mich um alles kümmern, das verspreche ich dir.«

»Du kümmerst dich also um Gilles.«

»Ja.«

»Okay. Das wollte ich nur wissen.«

Lou war wirklich müde, sie lag kaum zehn Minuten im Bett, da schlief sie bereits.

Es ist anfangs nur ein Schein, und der befindet sich deutlich unterhalb des Zentrums. Nach einiger Zeit – im Traum ist das schwer zu bestimmen – wird daraus ein unscharfer Fleck, und es dauert dann noch mal eine ganze Weile, bis dieser Fleck sich in zwei Punkte auflöst, die allmählich schärfer und größer werden. Die Schärfung der leuchtenden Flecke – Scheinwerfer eines Wagens, das ist jetzt deutlich zu erkennen – bedeutet Gefahr. Wenn man die Verhältnisse vernünftig betrachtet, sollte Lou jetzt von der Straße gehen, denn der Wagen kommt genau auf sie zu.

Aber sie geht nicht von der Straße.

Die Situation wird immer gefährlicher, da der Wagen näher kommt, und doch immer ungefährlicher, da er offenbar seine Geschwindigkeit verringert. Der unauflösliche Widerspruch zwischen Gefahr und Freude macht Lou Angst, nicht die Sorge, überfahren zu werden.