Ein Verrückter ist das

Paul Bézier war groß und nicht wirklich dick, trotzdem wirkte alles an ihm verquollen und gerundet. Davon abgesehen neigte er dazu, bei kleinen Redepausen oder wenn er konzentriert zuhörte, mit seinen dicken Lippen kleine kussartige Bewegungen zu machen.

»Na, Paul, da hast du dir ja was eingebrockt.«

»Ich würde Sie bitten, meinen Mandanten mit vollem Namen anzusprechen.«

Die Vernehmung fand nicht in Courcelles, sondern in den Räumen der Gendarmerie Fleurville statt, da der Bedeutung einer aufzuspürenden Gruppe von Schleusern Vorrang vor der Schießerei an einer Tankstelle gegeben wurde.

Conrey stellte also die Fragen, Ohayon und Roland Colbert durften nur zuhören. Paul Béziers Anwalt war ebenfalls zugegen. Und natürlich die zuständige Staatsanwältin. Eine Neue, eine Jüngere, wie Ohayon gleich bemerkte.

Conrey machte seine Sache routiniert, denn er unterstellte Paul Bézier sofort, er habe an der Tankstelle von Courcelles zwei Menschen erschossen. Eine Eröffnung, die Ohayon für gewagt hielt, die aber den Effekt hatte, dass sich Béziers Anwalt einschaltete und erklärte, sein Mandant sei durchaus bereit, über seine Beteiligung an »einer vorübergehenden Unterbringung von Arbeitskräften« zu sprechen, mit der Schießerei jedoch habe er nichts zu tun.

»Gut«, gab Conrey nach, »sprechen wir erst mal darüber.«

»Da gibt’s nichts zu sagen, außer dass ich Decken und was zu essen und zu trinken besorgt habe.«

Paul Bézier schien um Aufrichtigkeit bemüht, jedenfalls hatte er keine abwehrende oder lässige Haltung eingenommen. Im Gegenteil. Er stützte sich mit seinen Unterarmen auf dem Tisch ab, was ihm erlaubte, seinen Oberkörper ein Stück weit über den Tisch zu schieben. Der Mann wollte reden, sich von Schuld und Last befreien. Trotzdem war die dadurch entstehende Nähe für Conrey etwas unangenehm, was vor allem an Paul Béziers sonderbaren Lippenbewegungen lag.

»Wenn Sie Täter suchen, ja? Dann suchen Sie Gilles und V.«

»Wen sollen wir suchen?«

»Gilles Larousse und Robert Vauterin. Wo die beiden im Moment sind, kann ich Ihnen aber nicht sagen. Die sind nämlich weg, und ich weiß nicht wohin. Das sage ich jetzt ganz ehrlich. Ehrlich!«

Conrey ließ sich nicht anstecken von Pauls Aufrichtigkeit. »Sie haben also Decken gebracht.«

»Weil in den Kliniken zwar noch Betten stehen, aber ohne Bettdecken.«

»Und warum haben diese illegal eingeschleusten Arbeitskräfte dort übernachtet?«

Der Anwalt von Paul Bézier unterbrach sofort: »Aus der Sicht meines Mandanten waren das keine illegal eingeschleusten Arbeitskräfte, sondern Menschen, die unterwegs nach Belgien waren und dort oben in der Kurklinik lediglich …«

»… gesund werden wollten?«

»Sie meinen das möglicherweise ironisch, aber genau so war es.«

»Und ich bin froh, dass es vorbei ist damit, das können Sie mir glauben. Ehrlich! Das würde ich sogar beschwören.«

»Und warum genau sind Sie so überaus froh, dass Sie gefasst wurden?«

»Weil ich mir schon Gedanken gemacht hatte, ob das überhaupt alles mit rechten Dingen zugeht. Denn eigentlich sollten wir die Gebäude ja nur bewachen.«

»Sie haben sich kurz vor Ihrer Verhaftung mit einem Mann gestritten.«

»Ja, mit V.«

»Robert Vauterin?«

»Genau, weil ich rauchen wollte. Der Zigarettenanzünder im Transporter ist aber kaputt, und mein Feuerzeug war leer. Ich weiß nicht, ob Sie rauchen, aber da entsteht schon ein Drang. Ich wusste aber, dass im Gebäude auf dem Tresen des alten Empfangs ein Feuerzeug liegt. Ich wollte nur kurz rein, es holen, aber V wollte das nicht, weil er meinte, wir würden vielleicht beobachtet und niemand sollte wissen, dass wir Schlüssel für die Gebäude haben. Auch da dachte ich mir schon, dass etwas nicht stimmt. V und Gilles sind nämlich, wenn Sie mich fragen, komplett verrückt. Das ist ja oft so, bei welchen, die beim Militär waren. Vor allem Gilles rastet schnell aus. Und zwar komplett. Und misstrauisch ist er auch, denkt immer nur schlecht von allen. Der wollte nie, dass irgendwer irgendwen kennenlernt. Deshalb wohl auch das mit dem Umladen.«

»Ihre Kurgäste wurden umgeladen?«

Pauls Anwalt konnte das so nicht stehenlassen. »Sie würden mir einen Gefallen tun, Monsieur Conrey, wenn Sie Ihren Zynismus etwas mehr kontrollierten.«

Sein Mandant sah das anders. »Wieso Zynismus? So wie ich das gesehen habe, waren das so was wie Hotelgäste. Auch wenn es da in der Klinik ziemlich fies roch. Und ich gebe auch zu, dass ich wusste … Wir hätten da keine unterbringen dürfen. Das war mir schon klar. Aber doch nicht so! Doch nicht, dass es am Ende ein Verbrechen ist. Ich habe 1500 Francs die Woche extra gekriegt, um die Decken und das Essen zu besorgen und auch mal sauber zu machen. 1500! Dafür begehe ich doch kein Verbrechen!«

»Nicht so schnell bitte. Wie lief das mit dem Umladen?«

»Na, die kamen mit einem LKW, manchmal auch mit Transportern, und stiegen am Parkplatz neben dem Forsthaus aus. Ich musste im Wald warten, bis der LKW wieder weg war, und hab sie dann abgeholt, durch den Wald geführt und zum Krankenhaus gebracht. Dort bekamen sie dann ihre Akten.«

»Was für Akten?«

»Weiß ich nicht. Gilles hat immer so dünne … wie nennt man das denn? So gefaltete Pappen, in die man was einheften kann.«

»Faltmappen?«

»Von mir aus. Die hat er an sie verteilt, bevor sie dann reingegangen sind. Jedenfalls, Gilles hat immer zu mir gesagt: ›Keinen Kontakt zu den LKW-Fahrern.‹ Und so habe ich es dann auch gemacht. Die Gäste blieben meistens zwei oder drei Tage, dann haben Gilles oder Robert sie so Stück für Stück nach Belgien gebracht.« Paul Bézier unterbrach sich kurz. »Das mit Belgien ist V mal rausgerutscht.«

»Nun, ich kann für Sie nur hoffen, dass niemand Stück für Stück nach Belgien gebracht wurde.«

»Doch, so war es. Sie fuhren immer in kleinen Gruppen. Und immer in Gilles’ Transporter.«

»Und was waren das für Gäste, die zu Ihnen kamen?«

»Männer. Meist jüngere.«

»Und wie sahen die aus?«

»Na, ich denke, die kamen wohl aus dem Süden. Aber nicht aus Südfrankreich.«

»Sie meinen aus Algerien oder Marokko?«

»Das weiß ich nicht, es wurde ja nie gesprochen. Ich durfte nur Englisch mit denen reden, und immer ganz knapp. Ich hatte mir die Worte aufgeschrieben. Die Männer haben auch nur Englisch gesprochen. Glaube ich jedenfalls.«

»Aber Sie werden doch einen Akzent herausgehört haben.«

»Mein Englisch ist nicht so gut.«

Der Anwalt machte einen Vorschlag. »Ich denke, das reicht erst mal zu dieser möglicherweise illegalen Nutzung einer leerstehenden Kurklinik. Wie Sie sehen, weiß mein Mandant nur sehr wenig von dem, was da im Hintergrund vor sich ging.«

»Eigentlich gar nichts. Ehrlich!«

»Er ist trotzdem bereit, eine Aussage zu machen, die die Schießerei an der Tankstelle betrifft. Natürlich hofft er im Gegenzug, dass die hier Anwesenden seine teilweise Mitwirkung an der zeitweiligen Unterbringung von möglicherweise illegalen Arbeitskräften vernünftig und rational beurteilen.«

Sein Blick in Richtung Staatsanwältin wurde mit einem Nicken belohnt. »Also, Paul, was hast du gehört?«

»Na, wie ich schon sagte, Gilles ist meiner Meinung nach verrückt. Und in einer Nacht, da hörte ich, als die Gäste gerade vor der Klinik angekommen waren, unten im Tal Schüsse. Ziemlich viele. Ich denke, so um Mitternacht rum wird das gewesen sein. Zehn Minuten später kam dann Gilles, und der kochte.«

»Wie kam er?«

»Verstehe ich nicht.«

»Na, kam er zum Beispiel mit einem Auto, einem Fahrrad, einem Motorrad oder zu Fuß?«

»Na, mit seinem Transporter. Er hat die Gäste dann gleich alle mitgenommen, was vorher noch nie passiert war. Danach hatten wir nie wieder welche.«

»Wo hielt sich Robert Vauterin auf, als im Tal geschossen wurde?«

»Der wartete auf Gilles. Genau wie ich.«

»Er war bei Ihnen?«

»Ja.«

»Und an welchem Tag hörten Sie die Schüsse?«

»Na, wie ich sagte!«

»Ja?«

»In der Nacht, in der das an der Tankstelle passiert ist. Als ich dann hörte, dass es zwei Tote gab, bekam ich Angst. Ich glaube, V auch. Jedenfalls waren er und Gilles von da an keine Freunde mehr.«

»Sie sehen, mein Mandant spricht ganz offen, er hat nichts zu verheimlichen. Was er sich jetzt von den Polizeikräften und der Justiz erhofft, ist Schutz.«

»Oh, wir werden ihn gerne schützen«, erklärte Conrey sofort. »Auch wir haben eine ganze Reihe von Hotels, und ich kann Ihnen verraten, in unseren Hotels werden die Decken regelmäßig gewaschen. Teilweise müssen die Gäste dabei allerdings helfen.«

»Wir hatten eine Vereinbarung.«

»Sicher, aber ich möchte noch ein bisschen mehr über Belgien erfahren. So lange ist Ihr Mandant unser Gast.«

Nun sahen sowohl Conrey als auch der Anwalt zur Staatsanwältin rüber. Die reagierte nicht, da sie noch dabei war, sich Notizen zu machen.