Man sah Ohayon an, dass er sich Sorgen machte – er hatte bereits dreimal in seinen Vernehmungsprotokollen geblättert.
»Vielleicht versteckt sie sich irgendwo, weil sie Angst vor Robert Vauterin hat.«
»Und warum kommt sie dann nicht zu uns?«
»Das ist meine Schuld. Sie hatte mich schon bei der ersten Vernehmung gefragt, ob sie als Zeugin möglicherweise in Gefahr ist. Ich habe ihr das ausgeredet. Auch als die anderen Zeugen kamen und behaupteten, sie würden von einem Mann auf einem Motorrad verfolgt, habe ich das für eine Form von Hysterie gehalten.«
»Wir waren beide dieser Meinung.«
»Stimmt, du hast ja noch diese Rede in der Aula gehalten. Und die war wirklich sehr gut.«
»Vielleicht aber fahrlässig, wie sich jetzt zeigt. Wir hätten dieser Geschichte mit dem Motorradfahrer gründlicher nachgehen müssen.«
Ohayon schüttelte den Kopf, stand sogar auf und unternahm eine kurze Wanderung im Kreis, die vor dem Fenster endete. »Was ich nicht verstehe … Warum sollte jemand ein Mädchen entführen, das seine Aussage längst gemacht hat? Das ergibt überhaupt keinen Sinn.«
»Weil sie uns vielleicht nicht alles gesagt hat.«
»Aber das hätte ich doch gemerkt.«
»Sicher?«
»Roland! Das Mädchen ist siebzehn Jahre alt.«
»Achtzehn.«
»So gerade. Sie hatte noch nie mit dem Gesetz zu tun. Vor allem: Was könnte sie überhaupt wissen?«
»Ihr Vater ist mit Gilles Larousse befreundet.«
»Du meinst, dass sie ihn gedeckt hat?«
»Du hast ja die Aussage von Paul Bézier gehört. Vermutlich hat Gilles Larousse an der Tankstelle geschossen. Sie kannte ihn, er war öfter bei ihren Eltern zu Hause.«
»Aber dieser andere Junge …«, überlegte Ohayon. »Dieser Benoît. Der hat doch ausgesagt, dass der Schütze einen Helm trug.«
»Vielleicht hat sie ihn an etwas anderem erkannt. An seinem Gang, einer Narbe an der Hand, irgendetwas, das uns nicht bekannt ist.«
»Nur besitzen weder Gilles Larousse noch Robert Vauterin ein Motorrad.«
»Nicht offiziell, aber …«
»Also gut, Roland. Wenn einer der beiden sie tatsächlich entführt hat, wo würde er sie hinbringen?«
»In einen Lagerraum?«
»Haben wir gecheckt.«
»Gott, Ohayon! Es gibt tausend Möglichkeiten. Gilles Larousse hat Zugriff auf die Laster der Spedition, er kann sie sonstwo hingebracht haben.«
»Und worauf soll das hinauslaufen? Wann will er sie wieder freilassen?«
»Du versuchst dir gerade was schönzureden.«
»Nein, Roland. Ich bin sicher, dass sie sich irgendwo versteckt. Ihre Freunde haben ausgesagt, dass Lou nach Paris wollte. Vielleicht ist sie da.«
»Dein Wort in Gottes Ohr.«
Gilles Larousse und Robert Vauterin waren zur Fahndung ausgeschrieben. Bis jetzt hatte sich niemand gemeldet. Viele Einwohner von Courcelles, darunter auch Claire und Julien, beteiligten sich an einer zweiten Suchaktion. Wieder ohne Erfolg. Dafür hatte Roland Colbert seine Beziehungen spielen lassen und einen Durchsuchungsbeschluss erwirkt, der sich auf alle der Spedition Larousse zugänglichen Räumlichkeiten und Gebäude bezog. Also auch auf die Lager in Nancy, Reims und Troyes. Roland selbst überwachte die Durchsuchungen, Conrey konzentrierte sich auf Belgien, Ohayon dachte nach.
Dann kreiste nur noch ein Hubschrauber.
Tage vergingen, und Ohayon hatte Schwierigkeiten einzuschlafen. Dreimal war er schon die Gegend um Courcelles herum abgefahren, hatte nach leerstehenden Gebäuden Ausschau gehalten. Lous Eltern waren bereit, jede nur erdenkliche Unterstützung zu gewähren, gleichzeitig waren sie sich sicher, dass weder sie noch Lou jemanden in Paris kannten, bei dem ihre Tochter hätte unterkommen können.
Also fing Ohayon von vorne an. Bemühte sich, noch einmal ganz unvoreingenommen an alles heranzugehen. Und dann … er hatte die Kellerräume der Schule durchsucht, er hatte noch den Geruch von eingelagerten Schulunterlagen und Putzmitteln in der Nase … fiel ihm ein, dass er selbst, als er noch zur Schule ging, ein paarmal ziemlich feist und zäh gelogen hatte. Und er hatte sich sehr gut darauf verstanden, dabei ein ganz unschuldiges Gesicht zu machen.
»Sie?«
»Hallo Claire. Du bist noch hier?«
»Warum sollte ich nicht hier sein?«
»Weil zum Beispiel deine Klassenkameradin Anna von ihren Eltern nach London gebracht wurde?«
»Benoît ist auch weg und Albert, Fabien und Francesca. Ihre Eltern meinen, wir wären hysterisch, und es sei besser, uns zu trennen.«
»Du hast keine Angst, hysterisch zu sein?«
»Nein, ich bin einfach nur traurig.« Sie zögerte kurz. »Weil ich Philippe nicht retten konnte. War es denn wirklich Selbstmord?«
»Unsere Fachleute sind sich eigentlich sicher.«
Sie blickte zu Boden, man sah deutlich, dass es ihr nicht leicht fiel zu sagen, was sie zu sagen hatte. »Zuerst habe ich Lou und Julien die Schuld gegeben, weil die in der Nacht, als Philippe das gemacht hat, rumgeknutscht haben. Und ich glaube inzwischen, Philippe war nie in mich verliebt. Dabei mochte ihn zu dem Zeitpunkt außer mir keiner mehr. Aber was nützt es schon, irgendwem Schuld zu geben?«
»Lou und Julien haben rumgeknutscht?«
Sie versuchte zu lächeln, es sah erbärmlich aus. »Ja, haben sie. Lou hat das wahrscheinlich nur gemacht, damit Philippe endlich kapiert, dass es vorbei ist. Sie hat Julien benutzt.«
»Das vermutest du.«
»Julien ist schon seit mindestens einem Jahr in Lou verknallt. Mit dem konnte sie machen, was sie wollte. Gemein, weil Julien ein echt netter Kerl ist. Und so treu.«
»Sag mir doch mal ganz genau, wie das ist, wenn Julien treu ist.«
»Na, bis der mal eine Freundschaft aufgibt, da muss echt viel passieren. Treu, manchmal auch ein bisschen naiv. Ich hoffe nur, dass Lou ihn, was Philippe angeht, nicht zu irgendwas Verrücktem angestiftet hat.«
»Zum Beispiel?«
»Ich weiß nicht. Ich habe mich nur gewundert, dass wir Philippe so schnell gefunden haben. Also seine Leiche.«
»Noch mal ganz genau, bitte. An dem Morgen, als ihr Philippe im Steinbruch gefunden habt. Wo habt ihr da überall gesucht?«
»Nur da.«
»Ihr seid gleich zum alten Steinbruch gefahren?«
»Ja.«
»Und wer von euch kam auf die Idee, zuerst da hinzufahren?«
»Julien. Er sagte was von einem, der sich da mal erhängt hat, und Lou und Anna meinten dann auch, es sei eine gute Idee, zuerst da zu suchen.«
»Ist Julien auch von seinen Eltern in Sicherheit gebracht worden?«
»Nein, der ist noch hier. Ich habe ihn dreimal angerufen, um zu reden und zu überlegen, wo Lou sein könnte. Aber er will nicht. Julien hat sich total in sich verkrochen. Früher war er immer ganz offen und bereit, über alles zu sprechen, was mit seinen Freunden zu tun hat. Gerade auch, wenn es Stress gab. Und zwischen Julien und Philippe gab es ja öfter Stress in letzter Zeit. Weil Julien ist eben in Lou verknallt und fand es scheiße, dass sie noch immer mit Philippe zusammen war. Und das obwohl der angeblich dabei war, ihr Leben zu zerstören.«
»Das hat er so gesagt? Warum?«
»Julien hatte wohl ein paarmal gesehen, dass Philippe sich mit Gilles Larousse und diesem Robert Vauterin getroffen und Sachen besprochen hat. Lou war wohl auch dabei. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass die beiden so dumm waren, sich auf irgendwas Kriminelles einzulassen. Ich meine, das sind gute Freunde von mir, ich hätte doch gemerkt, wenn da was nicht stimmt.«
»Ja, das dachte ich auch. Ich danke dir, Claire.«
Als Ohayon wieder im Wagen saß, schlug er sich ein paarmal mit der Faust auf sein Knie. Er hatte alles falsch eingeschätzt. Obwohl er erst dreiundzwanzig war, hatte er völlig vergessen, was für eine Intensität Solidarität, Liebe und Hass in diesem Alter erreichen können.
Nachdem sein Knie genügend bestraft war, startete er den Motor und fuhr zum Haus von Juliens Eltern. Er hatte Glück, sie waren nicht da. Julien hatte kein Glück, denn schon nach ein paar einleitenden Sätzen wurde der kleine Gendarm ungemütlich.
»Es ist kein Spaß, Julien. Wenn du weißt, wo deine Freundin ist und uns trotzdem mit hohem Aufwand suchen lässt, ist das eine Straftat. Dann wird es nichts mit dem Studium.«
»Ich habe keine Ahnung. Wirklich.«
»Hast du dir mal Gedanken darüber gemacht, wie es Lous Eltern geht?«
»Sie hat immer gesagt, dass sie nach Paris will. Bestimmt ist sie dort. Irgendwann wird sie sich bestimmt melden, und dann ist alles wieder in Ordnung.«
›Also doch in Paris …‹ Ohayon wusste es sofort. Die Erleichterung war so groß, dass er sichtbar durchatmete. Es fiel ihm nicht leicht, weiterhin einen harten Ton anzuschlagen. Nur war der eben nötig, wenn er hier etwas erreichen wollte.
»Du meinst also, Lous Eltern nehmen das ganz locker, nur weil du irgendwas glaubst? Lous Stiefvater ruft jeden Tag dreimal bei uns auf der Gendarmerie an, und als ich das letzte Mal dort war, standen zwei leere Weinflaschen neben dem Sofa.«
»Lous Mutter hat schon immer getrunken.«
»Wo ist Lou?«
»Ich weiß es nicht.« Julien fing fast an zu weinen. »Ich schwöre es Ihnen, ich weiß nicht, wo sie ist. Ganz, ganz ehrlich. Ich würde es sofort sagen. Ich will doch auch, dass alles gut ausgeht.«
»Gut. Aber wenn sich rausstellt, dass du doch was wusstest, und wenn Lous Eltern irgendwas machen, das nicht mehr in Ordnung zu bringen ist, komme ich wieder. Darauf kannst du dich verlassen.«
»Sie waren bis jetzt immer so freundlich. Hat Lou jedenfalls gesagt.«
»Oh, da hat sie sich getäuscht. Ich bin nicht freundlich, ich tue nur so, um an Informationen zu kommen. Wenn wir uns das nächste Mal sehen, Julien, wird jemand von der Staatsanwaltschaft dabei sein.«
»Okay. War’s das?«