Ohayons Frisur

Ohayon saß in seinem Wagen und observierte das Haus, in dem Julien und seine Eltern lebten. Und während dieses Wartens zeigte sich etwas, das sich nicht von selbst erklärt.

Hätte Ohayon nicht nervös oder doch wenigstens hochkonzentriert in seinem Wagen sitzen müssen? Die Augen zusammengekniffen wie ein Wolf oder wie zum Beispiel Charles Bronson in Spiel mir das Lied vom Tod?

Hätte vielleicht. Könnte. Aber Ohayon ist nicht Charles Bronson. Er knipste sich hingebungsvoll seine Fingernägel. Es machte ihm immer Spaß, sich schon vorher zu überlegen, wohin die kleinen Teufel wohl fliegen würden. Als er damit fertig war, drehte er den Rückspiegel so, dass er sein Gesicht betrachten konnte. Er hatte es schon geahnt. Seine Haare gingen ihm inzwischen doch ziemlich weit über die Schultern und lagen teilweise auf den Epauletten seines Amiblousons auf. Und sie wirkten tatsächlich strähnig und fettig. Außerdem musste er sie sich ständig aus dem Gesicht schieben, was gerade bei Vernehmungen nicht unbedingt souverän wirkte. Auch Roland hatte ihn ja schon darauf hingewiesen.

Der Haarschnitt ist wichtig für einen Mann, keine Frage, aber man sollte während einer Observation nicht minutenlang sein Gesicht im Rückspiegel betrachten. So hätte Ohayon beinahe den Moment verpasst, als Julien das Haus verließ und sein Moped startete. Fast fünfzehn Minuten hatte der Junge durchgehalten. Das imponierte Ohayon.

›Ein treuer Freund. Oder wirklich sehr verliebt. Oder jemand, der sich alles ganz genau überlegt.‹

Er musste ihm nur zwei Kilometer folgen. Er hätte ihn auch überholen können, denn Ohayon wusste längst, wo Julien hinfahren würde. Vor dem Haus von Lous Eltern angekommen, kippte er sein Moped auf den Ständer und klingelte.

Ohayon wartete zwei Minuten, dann ging auch er hoch.

Als er das Wohnzimmer betrat, erkannte er sofort, dass Lous Mutter geweint hatte, und gleichzeitig sehr erleichtert aussah.

»Es geht ihr gut, sie lebt, sie ist in Paris!«, brach es aus ihr heraus. Dann wieder Tränen. Ohayon wunderte sich nicht, dass Julien seinem Blick auswich, und der Junge versuchte es dann auch gleich noch mit einer plumpen Lüge.

»Sie hat mich eben angerufen und gebeten, dass ich ihren Eltern Bescheid sagen soll.«

»Danke«, weinte Lous Mutter, »danke, Julien.«

»Wir haben nur kurz telefoniert, und Lou wollte mir ihre Nummer nicht geben. Sie hat aber gesagt, dass sie schon an verschiedenen Unis war, sie will jetzt definitiv studieren.«

»Komm, Julien, wir müssen ein bisschen reden«, erklärte Ohayon entschieden und zerstörte damit all das Schöne, das gerade im Raum schwebte.

Zehn Minuten später. Eine Eisdiele, voll mit hellen Klängen und hellem Interieur.

»Ich weiß nicht, wo in Paris Lou übernachtet, aber sie ist nicht in Gefahr. Wir haben nur kurz telefoniert, ich war total geschockt und gleichzeitig unglaublich erleichtert … Können Sie sich ja denken.«

»Julien. Du kannst aufhören, mich zu belügen.«

Julien war nicht doof, jedenfalls hatte er jetzt endgültig kapiert, dass es keinen Sinn mehr machte, irgendwelche Geschichten zu erzählen.

»Na gut, sie ist in Paris, weil sie Angst hat, dass Robert Vauterin sie auch noch umbringt, so wie Philippe. Ich durfte ihren Eltern nichts sagen, weil Lous Vater mit Gilles und Robert befreundet ist.«

»Ich muss zugeben, du imponierst mir.«

»Versuchen Sie es jetzt wieder mit nett?«

Ohayon unterhielt sich fast eine Stunde mit Julien. In diesem Gespräch ging es vor allem um Treue, Freundschaft und Verrat. Und so fand Ohayon ganz nebenbei heraus, dass Julien in der Nacht, in der Philippe starb, mit Lou zusammen gewesen war. Julien gestand Ohayon auch, dass Philippe ihn zwei Tage vor seinem Selbstmord besucht hatte.

»Er hat mich wieder mit seinen Sprüchen genervt und ständig gesagt, die Zeit, in der wir auf die Autos geschossen haben, sei die beste seines Lebens gewesen.«

Julien berichtete weiter, wie gemein Philippe sich Claire und Lou gegenüber im Paris aufgeführt hatte. »Er hat beide gleichzeitig geküsst und so getan, als würde er sie vollständig besitzen. Ich glaube, Philippe hatte Spaß daran, andere zu quälen und zu demütigen, vielleicht, weil wir früher alle so fies zu ihm waren. Er wurde immer nur Arsch genannt und auch viel in den Arsch getreten. Nur wegen dem Wort, nur wegen Arsch. Vielleicht deshalb. Dass er so war, meine ich.«

Das mit dem Arsch, dem Treten und dem Übertreten von Regeln der Fairness unter Freunden überhörte Ohayon, ihm war etwas anderes wichtig.

»Ihr habt auf Autos geschossen?«

»Im Steinbruch, da, wo wir ihn dann gefunden haben, und … Ich weiß inzwischen, dass Lou mich nicht liebt. Hat sie nie. Sie hat mich nur benutzt.«

»Das war jetzt ein Sprung.«

»Finden Sie? Ich glaube, ich bin schon seit zwei Jahren in sie verliebt, ich habe es nur nicht gleich gemerkt. Sonst hätte ich so was doch nie gemacht. Schießen mit einer echten Waffe.«

»Was für eine Waffe habt ihr benutzt?«

»Eine Pistole, die Philippe seinem Vater geklaut hatte.«

»Weiß du, wo diese Waffe jetzt ist?«

»Die hat Philippe bestimmt wieder zurückgelegt. Jedenfalls habe ich ihm vor ein paar Tagen gesagt, dass mich so was wie Schießen nicht mehr interessiert, weil ich, wie alle anderen, an die Uni und an Berufe denke. Ich habe ihm außerdem gesagt, dass sich niemand mehr für das interessiert, was er denkt oder sagt.« Eine kleine Pause, ein Blick in Richtung einer Fußleiste. »Das war nur zwei Tage, bevor er sich das Leben genommen hat.« Wieder der Blick Richtung Fußleiste. »Aber weil Philippe an dem Abend so viel von dem alten Steinbruch gesprochen hat, und dass das die beste Zeit war, kam ich dann auf die Idee, zuerst dorthin zu fahren, als alle ihn suchten.« Und noch mal. Wieder Richtung Fußleiste. Diesmal klebte der Blick länger da fest. »Ich habe noch immer ein total beschissenes Gefühl, weil ich nichts unternommen habe, obwohl mir doch klar sein musste, dass Philippe unbedingt jemanden zum Reden brauchte. Aber man merkt eben nicht immer, dass einer schwach ist, wenn er so stark ist. Und jetzt …«

»Hm?«

»Mal tut er mir leid und dann wieder glaube ich, dass er einfach nur total egozentrisch war. Philippe, der war … ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen das erklären soll. Er war nicht zu fassen. Man konnte bei ihm nie sagen, er ist so oder er ist so. Er hatte eigentlich gar keinen richtigen Charakter. Und das obwohl er eindeutig der King war. Da war bei ihm so was wie ein ständiges Schweben oder Drehen und … So gesehen kann man nicht mal sagen, dass er böse war. Oder?«

Keine Antwort von Ohayon.

»Jedenfalls glaube ich inzwischen, dass er nie wirklich mein Freund war. Nicht, weil er mich reingelegt hätte, sondern weil es eben seine Art war, sich bei nichts festzulegen. Er konnte das vielleicht gar nicht, verstehen Sie? Ich glaube, nur deshalb hat er Lou mit Claire betrogen. Vor den Augen von uns allen. Können Sie sich vorstellen, was das für ein Gefühl ist? Oder war. Für Lou, für mich, für Claire. Unser Lehrer hat immer gesagt, Philippe sei hochintelligent. Ich weiß nicht, ob Monsieur Theron da richtig lag. Kommt wohl drauf an, wie man intelligent definiert. Aber Philippe hatte auch was. Er gehörte zu der Sorte Mensch, an die andere glauben.«

»Es ist gut, dass du zu Lous Eltern gefahren bist und sie aus ihrer Ungewissheit erlöst hast.«

»Na ja, Sie sind ja auch ein ziemlicher Schocker. Hauptsache, Sie fassen jetzt erst mal Robert Vauterin. Nicht, dass der Lou doch noch was tut. Wir haben übrigens gar kein Eis gegessen, nicht mal was getrunken.«

»Wir haben über wichtige Dinge gesprochen.«

»Schon, aber der Besitzer guckt immerzu rüber. Und er sieht ein bisschen verstimmt aus. Vernehmen Sie hier öfter Leute?«