Hell, modern, bedeutend. Paris und ein neuer Kosmos, der Universität heißt.
Für Lou veränderte sich allein im ersten Semester so viel, dass sie Courcelles und ihre Freunde komplett vergaß. Sie lernte ja auch so viele neue kennen …
Monique (erste Wohnung zusammen), Annicka (langweilig, aber nützlich), Georges (der erste Bisexuelle, den sie richtig kennenlernte), Laure (von Hause aus arrogant, aber ehrlich), Bénédicte (starb an Drogen, was niemand gedacht hätte), Eva (attraktiv, plus intelligent, plus reiche Eltern. Mit ihr teilte Lou einige Geheimnisse), Sébastien (mit ihm war sie fast zwei Jahre zusammen).
Um nur einige zu nennen.
Zunächst schien Lou der Anfang in Paris gar nicht so kompliziert, wie sie in Courcelles geglaubt hatte.
»Ja, ich nehme das Zimmer.«
»Wie lange werden Sie bleiben?«
»Eine Woche. Erst mal.«
Bereits am Tag ihrer Ankunft trieb Lou ein unbedingtes Verlangen auf die Straße. Es kam ihr vor, als wäre es eine Pflicht, die Hauptstadt in dieser Weise zu erkunden. Ganze Tage blieb sie draußen, suchte nur zur Nacht ihre Pension auf. Einige Tage später hatte sie ein Studentenzimmer.
Gehend, schauend nahm sie Block für Block die Stadt in Besitz und bekam eine immer genauere Vorstellung von der Schlacht, die sie schlagen würde. Es war wirklich dieses Wort, ›Schlacht‹, das sie benutzte.
Bei all dem vergaß sie vollkommen, was in Courcelles vorgefallen war, bei all dem vergaß sie ihre Schuld, vergaß sie die Tankstelle, vergaß den Lastwagen mit den zwei jungen Männern, den Mitsubishi Mirage und die beiden Toten, vergaß zuletzt sogar die Schublade, in der die Pistole ihres Vaters gelegen hatte. Und da ihr beim Gehen und Sehen ihre Täterschaft entfiel, vergaß sie sogar Philippes zerschmetterten Körper.
Dieses Vergessen im Modus des Gehens war die erste lautlose Schlacht. Bei der sie viel Erde verbrannte. Und da sie sich schon mal von aller Last befreit hatte, widerstrebte es ihr nicht einmal mehr, sich mit einer Diebin zu vergleichen. Denn so eine war sie, das mogelte sie nicht weg. Eine Diebin, die sich nun durch List, Fleiß, notfalls mit Ellenbogen in den Besitz ihres Anrechts auf die Reichtümer der Stadt bringen würde.
Es war wirklich erstaunlich, aber die Verwandlung eines Mädchens aus der Provinz in eine Städterin vollzog sich innerhalb einer guten Woche.
Vielleicht trank sie in diesen Tagen zu viel Wein. Jedenfalls wurde der Kosmos ihrer Begehrlichkeit immer größer. Sie hörte auf eine innere Stimme, die ihr zurief: Du wirst jemand sein! Eine Stimme, die dabei war, etwas auszubrüten.
Immer erhitzter flammten ihre Träume in dem trüben Licht, das nachts durch die Scheiben der Lokale auf die Straße fiel. Ohne je zu wissen wohin, setzte sie ihre Wanderungen fort, bis sie endlich völlig erschöpft zur Ruhe kam. ›Ich bin nun eine andere …‹, meinte sie.
Auch ihr Stiefvater verhielt sich anders als gedacht. Er schickte ihr Geld. Nicht so viel, wie sie gebraucht hätte, aber doch recht viel, wenn sie bedachte, was er mit seinen beiden Tankstellen verdiente. So musste Lou nur an drei Tagen pro Woche ein paar Stunden an der Kasse eines Supermarkts und in einer Konservenfabrik arbeiten und hatte genügend Geld, um bei allem mitzumachen und auch mal einen über den Durst zu trinken.
Lehrerin hatte sie werden wollen.
Doch nach Abschluss ihres Studiums stellte sich Lou bei ihren Bewerbungen und in ihrer Probezeit so dämlich an, als wolle sie mit allen Mitteln verhindern, einen Beruf zu ergreifen, sie fühlte sich nicht mehr berufen, Lehrerin zu werden. Philippe hatte doch völlig Recht gehabt … »Was soll es bringen, sein Leben mit so was zu verschwenden?« Sie begann, Kunstgeschichte zu studieren, hörte aber nach einigen Semestern wieder auf. Alles, was davon hängenblieb, war eine eigentümliche Begeisterung für die Kerkerbilder des venezianischen Kupferstechers Giovanni Battista Piranesi.
Lou fing an, ihre Mutter, und überhaupt alle, die nach ihren Fortschritten fragten, zu belügen und arbeitete nur noch in ihrer Konservenfabrik. Eine Arbeit, für die sie eindeutig überqualifiziert war.
Da war noch etwas. Dieser verrückte Traum, der davon handelte, dass auf einer nächtlichen Straße die aufgeblendeten Lichter eines Autos auf sie zukamen. Den wurde sie einfach nicht los. Wenn sie davon träumte, war sie am Morgen total gerädert.
Das Jahr 1996 war wirklich hart. Meinte sie.
Doch dann wurde ihr wie aus dem Nichts ein neues Leben geschenkt. Lou wusste nicht, was sie tun sollte, und so landete sie am Ende mehr zufällig in einem kleinen Kino, in dem gerade eine Sergio-Leone-Retrospektive lief, und sah Spiel mir das Lied vom Tod.
Nach dem Film, der für sie etwas sehr Realistisches und Befreiendes hatte, bekam sie auf einmal extremen Hunger. Also ging sie in die Cantina Mexicana nebenan und wurde dort von einem jungen Mann angesprochen.
»Warst du auch in dem Film?«
»Ja.«
»Was für eine ikonographische Kraft! Ich heiße Robert.«
»Lou.«
Ein zweiter kam hinzu.
»Das ist Fabien.«
»Hi, Fabien! Ich kannte mal einen, der auch so hieß.«
»Cool. Lust, dich zu uns zu setzen?«
Lou war noch nie hier gewesen. Die Bar, in der man unter sechzehn verschiedenen Burritos wählen konnte, glänzte mit einer ellenlangen Getränkekarte, und Tequila, das kapierte sie bald, war etwas Größeres als der Wein, den sie bis jetzt gewohnt war. Alles in der Cantina Mexicana passte perfekt zusammen. Das maisgelbe Licht kam aus Lampen, die so tief hingen, dass die beiden Finnen sich bücken mussten, wenn sie Getränke oder Essen brachten. Und selbstverständlich trugen sie auch diese lustigen Hüte. Davon abgesehen handelte es sich bei der Cantina, wie Lou schnell feststellte, im Grunde um einen Seminarraum für Cineasten. Ein paar Frauen, die möglicherweise Männer waren, schienen sich dort ebenfalls wohlzufühlen.
Von nun an verbrachte sie ihre Abende dort, und Robert und Fabien verpassten ihr nach und nach eine gründliche Einführung in verschiedene Bereiche filmischer Theorie und Ästhetik. Spiel mir das Lied vom Tod sahen sie sich dreimal an. Überhaupt guckten sie, wegen der ikonographischen Kraft, fast nur Filme, in denen viel geschossen und gestorben wurde. Vor allem Western und Mafiastreifen aus den Siebzigern. Und einmal sagte Fabien plötzlich: »Die eigentliche Frage lautet doch, ob der Held durch städtische oder durch familiäre Gewalt traumatisiert wird.«
Es war unglaublich, was die beiden alles im Kopf hatten und was sie wie miteinander verbanden. Doch sie konnten auch ganz normal reden.
»Sag mal, Lou, hast du nicht Lust, mal einen kurzen Rock für uns zu tragen und andere Schuhe?«
Sie tat es gerne, ging shoppen, zog sich an, wie die beiden es wünschten, und an manchen Abenden fühlte Lou sich auf diese Weise glücklich und frei. War sie nicht genau wegen dieser Freiheit nach Paris gekommen?
An anderen Abenden hörte sie nur halb zu. Denn das Wissen darum, dass sie vier Menschen auf dem Gewissen hatte, löste sich ja nicht einfach auf, nur weil zwei junge Männer über Filmästhetik sprachen.
Dieses stets sehr plötzlich und intensiv aufbrechende Schuldgefühl, das schon an Angst grenzte, war auch der Grund, warum Lou ihren neuen Freunden anlässlich all dieser Sterbefilme nie erzählte, dass auch sie schon geschossen und wirklich Erschossene gesehen hatte. Und am Ende mancher Nächte in der Cantina war sie so betrunken und zugekifft, dass ihre Schenkel sich öffneten, ihr Kopf bis zum Anschlag nach hinten sackte, ihr Speichel rauslief und sie nichts mehr wahrnahm als sich wiederholende Sätze und eine Blendung aus totaler Erkenntnis und Licht.