Also ein Grab

Hohe Bäume, gleichmäßiges Licht, gepflegte Wege.

Ihre alten Freunde aus Courcelles trafen sich, wie Lou wusste, an jedem 23. Dezember am Grab von Philippe. 2012 nahm sie zum ersten Mal an diesem Treffen teil. Das Ganze folgte, wie sie schnell merkte, einem Ritual. Julien verkündete zunächst, wie alt Philippe inzwischen wäre. Dann wurde seiner gedacht. Lou spürte dabei ein nadeliges Stechen in Händen und Füßen, und nach einer Weile meinte sie, ihre Oberarme und ihre linke Gesichtshälfte würden taub. Ihre Freundin Anna stand etwas abseits, als müsse auch sie etwas aushalten.

Nach dem Gedenken nahm Claire sie beiseite.

»Ich muss das mal loswerden, Lou, denn ich habe mich nie bei dir bedankt.«

»Wofür?«

»Dass du mir das Leben gerettet hast, damals, als ich in den Canal de Songe gefallen bin. Wenn du mich nicht aus dem Wasser gezogen hättest …«

Claire wurde sehr emotional, als sie noch einmal bis ins Detail von der Rettung, dem gemeinsamen Trocknen der Kleider und der wilden Rennerei im Maisfeld berichtete.

»Und wir sind tatsächlich haargenau an der richtigen Stelle rausgekommen.«

Lou war das ein bisschen unangenehm, denn sie erinnerte sich nicht mehr. Überhaupt waren Claires Schilderungen ihrer gemeinsamen Kindheit viel positiver als in ihrer eigenen Wahrnehmung. Sie hatte ihre strebsame, beinahe harte Art stets aus der Armut ihrer Eltern, den Geschichten ständigen Niedergangs ihrer Mutter und ihrem kleinen Kinderzimmer abgeleitet. Lou erinnerte sich nur zu genau daran, dass sie zu Hause immer die Schuhe ausziehen und leise gehen musste.

Claire hatte sich kein bisschen verändert. Sie wusste alles über jeden. So erzählte sie Lou, was in den Jahren aus den anderen geworden war, und dass das Treffen an Philippes Grab seit 1998 jedes Jahr stattfand.

Dass Julien und Anna geheiratet hatten, konnte Lou noch immer nicht glauben. Sie sah kurz zu ihrer Freundin von damals rüber. Die hatte sich inzwischen sechs Meter von ihnen entfernt und stand da, als habe man sie aus Salz geformt. Claire dagegen war lebhaft wie früher, hatte für alles eine Erklärung.

»Julien ist vermutlich der Zufriedenste von uns allen, denn er lebt in der Wiederholung. Wirklich! Bei ihm muss sich alles wiederholen. Andere würde das stören, Julien nicht. Er und Anna bewohnen schon seit Jahren das Haus von Annas Eltern, weil die jetzt auf Madeira leben, und er geht jeden Morgen vor dem Frühstück im Pool schwimmen. Er liest immer noch Bücher, die beschreiben, warum Menschen so sind, wie sie sind, und er hat die beiden Kinder erzogen, wie er selbst erzogen wurde.«

Lou spürte, dass ihr Körpergefühl allmählich zurückkehrte. Anna hatte sich mit kleinen Schritten noch etwas weiter von der Gruppe entfernt.

»Als Anwalt übernimmt Julien genau wie sein Vater nur die Pflichtverteidigung in äußerst schwierigen Fällen, bei denen die Angeklagten kaum eine Chance haben. Fälle, die sich lange hinziehen und nicht gerade massig Geld einbringen. Aber er muss ja auch nicht viel verdienen, denn Anna hat es wirklich zu was gebracht, sie sitzt ständig im Flugzeug und … dass Fabien letztes Jahr gestorben ist, weißt du?«

»Ich warte im Wagen auf dich«, sagte Anna plötzlich und machte sich auf den Weg Richtung Parkplatz. Lou wusste nicht, was sie tun sollte, aber als Claire ihr einen schnellen Blick randvoll mit Subtext zuwarf und zu Julien ans Grab ging, folgte sie ihr.

So ergab sich nun dieses Bild. Ein langer, gerader Weg auf einem Friedhof in winterlichem Licht, wie es sich gegen 14.30 Uhr zeigt, wenn der Himmel bewölkt ist. Keine Schatten, kaum Farben. Die blattlosen Äste der Bäume verschränken sich hoch über dem Weg, und es entsteht exakt der Eindruck, den auch Innenräume von Kathedralen vermitteln. Auf dem Weg zwei gehende Frauen. Man sieht beide von hinten, und die eine hat zwanzig Meter Vorsprung, was ein gutes Objektiv aber ausgleichen kann. Da ihre Laufwege leicht versetzt sind, sieht man beide. Sie wirken in dieser Naturkathedrale klein und unbedeutend.

Als Anna ihren Jaguar MK II erreichte, musste sie die Tür mit dem Schlüssel in einer Weise öffnen, wie man es früher tat, denn der Wagen wurde 1968 gebaut. Sie stieg ein, entriegelte die Tür auf der Beifahrerseite. Dann holte sie eine Packung aus der Mittelkonsole, entnahm ihr eine Zigarette, verzichtete aber darauf, sie anzuzünden, da Lou gerade einstieg.

»Ist das immer noch der Wagen deines Vaters?«

»Ja.«

»Claire hat mir berichtet, dass du beruflich sehr erfolgreich bist. Sie scheint richtig stolz auf dich zu sein.«

»Ja, sie ist stolz. Und ich weiß auch, dass Claire annimmt, ich habe es leicht gehabt. Aber man geht nicht nach London und triumphiert. Wie lief es für dich?«

»War ein komisches Gefühl, an Philippes Grab zu stehen. Es ist alles so zugewachsen, dazu der eingegraute Stein und das Moos. Als ich das letzte Mal hier war …«

»… warst du achtzehn und ich siebzehn. Wollen wir uns damit aufhalten, darüber zu sprechen, dass Zeit vergangen ist?«

»Ich musste auch daran denken, wie wir beide damals oben über dem Steinbruch gelegen und geträumt haben.«

»Daran erinnerst du dich noch?«

»Vielleicht, weil Philippe sich von genau dieser Stelle aus in die Tiefe gestürzt hat.«

»Hast du daraus geschlossen, dass er bei seinem Selbstmord an dich gedacht hat? Oder willst du mich fragen, ob ich ihn dort hingelockt und runtergestoßen habe?«

»Du warst damals sehr hart gegen ihn.«

»Es gab eine kurze Zeit, da mochte ich Philippe, er war sogar ein paarmal bei uns zu Hause. Aber du hast Recht, von dieser Phase abgesehen …«

»Trotzdem trefft ihr euch seit Jahren an seinem Grab.«

»Das mache ich nur Julien zuliebe. Aber das ist jetzt nicht wichtig, ich wollte dich etwas fragen, ich … Warum bist du hier?«

Was hätte Lou darauf antworten sollen?

»Sei mir nicht böse, aber ich fand es gut, dass du all die Jahre nicht gekommen bist. Ich hatte angenommen, du hättest uns vergessen. Ich hatte vor allem gehofft, du hättest Philippe vergessen. Julien und ich …«

»Ich frage mich oft, ob ich ihn nicht hätte retten können.«

»Julien fragt sich das auch. Ihr hättet ihn nicht retten können. Philippe hat alles immer nur für sich selbst gemacht.«

»Sogar sterben?«

Anna zündete sich nun endlich die Zigarette an, die sie seit fünf Minuten in der Hand hielt.

Lou sah zu ihrer Freundin rüber, die Freude daran zu haben schien, Rauch gegen die Windschutzscheibe ihres MK II zu blasen. Anna trug goldene Ohrstecker, die die Form eines raffiniert konstruierten Schneckenhauses hatten, in dessen Inneren eine weitere Schnecke saß.