I ch saß im Laubengang und blätterte durch Reisekataloge. Die Kataloge waren dick, und der Einband war aus glänzendem Papier.
Der Mann im Reisebüro hatte wissen wollen, wohin ich verreisen wollte, aber so genau wusste ich das ja selbst noch nicht. Ich wusste nur, dass ich meine Mutter mit einer guten Idee überraschen wollte.
»Ans Meer!«, sagte ich.
»Europa?«, fragte der Mann, und ich nickte.
»Portugal, Spanien, Frankreich, Italien, Griechenland?«
»Genau«, sagte ich. »Und kann ich bitte auch einen Ungarn-Katalog haben?«
»Ungarn liegt aber nicht am Meer«, sagte er und packte einen Stapel Kataloge in eine Tasche.
Ich wusste natürlich, dass Ungarn nicht am Meer lag, und ich wusste, dass meine Mutter niemals nach Ungarn fahren würde. Aber ich schaute mir gerne Bilder von dort an.
Ich war schon in der Tür, als mir noch etwas einfiel.
»Haben Sie auch einen Katalog für Florida?«
Jetzt starrte ich abwechselnd in den hellblauen Himmel über mir und auf eine Straße, die mitten durch türkisblaues Wasser führte. Ich sah Palmen an pudrigen Stränden und rosafarbene Hotels mit riesigen Pools und Veranden mit geflochtenen Schaukelstühlen und Gärten mit Pflanzen, deren Blüten so groß waren wie Fußbälle.
Und dann sah ich die Preise.
Sie waren so hoch, dass wir uns nicht einmal den Hinflug leisten konnten. Wir konnten uns keinen einzigen Flug leisten, selbst wenn es erlaubt gewesen wäre, sich einen Sitz zu teilen.
Ich klappte den Florida-Katalog zu und schloss die Augen. Die Sonne stand hoch am Himmel und färbte die Dunkelheit hinter meinen Lidern rot. Ich hatte den ganzen Laubengang für mich, aber ich wusste, dass das nicht lange so bleiben würde. Meine Mutter und ich waren nicht die Einzigen, die ihr Leben nach draußen verlagerten, sobald es warm wurde. Wir teilten uns den Gang mit unseren Nachbarn, die alle, genauso wie wir, keinen Balkon hatten.
Da war zum Beispiel Luna. Luna war älter als ich, aber jünger als meine Mutter. Wie alt sie genau war, wussten wir nicht. Mal sagte sie 23 , dann 32 . Die Wahrheit spielte zwischen diesen beiden Zahlen Verstecken. Alter war für Luna davon abhängig, wie sie sich fühlte. Luna arbeitete ganz in der Nähe im Sunset Sonnenstudio. Wenn sie jemanden mochte, ließ sie ihn gratis auf die Sonnenbank. In den Taschen ihrer Jeans steckten immer ein, zwei Coins, die man statt Münzen in den Schlitz werfen konnte. Wir mochten Luna, und Luna mochte uns. Das nützte uns allerdings nichts. Ich war zu jung, um ins Solarium zu gehen. Der Besuch war erst ab sechzehn erlaubt. Ich versuchte immer wieder, Luna zu überreden, aber sie schüttelte nur den Kopf, dass ihre rosa Haare flogen. Meine Mutter brauchte kein Sonnenstudio. Wenn sich im Winter die Haut der meisten um uns herum in die Farbe von Fleischwurst zurückverwandelte, war sie immer noch braun. »Das ist das Roma-Blut«, sagte sie und seufzte. Sie konnte es nicht fassen, dass sie die Chance verpasste, etwas zu bekommen, ohne dafür bezahlen zu müssen.
Ich schlug den nächsten Katalog auf. Italien. Italien war natürlich nicht Florida, aber dort gab es auch schöne Strände, und es gab gute Pizza. Und das ist ja schon eine ganze Menge. Ich verglich Hotels und Campingplätze miteinander. Ich blätterte vor und zurück und wieder vor. Es dauerte nicht lange, bis mir klarwurde, dass unser Gewinn einfach nicht reichte. Er reichte vielleicht für eine neue Matratze oder für ein, zwei Ausflüge in einen großen Freizeitpark. Er reichte auch für eine Schwimmbad-Jahreskarte. Wahrscheinlich reichte er sogar für eine Fahrt nach Italien mit unserem Nissan. Aber was dann?
»Fahrt ihr diesen Sommer weg?«, fragte plötzlich eine Stimme neben mir. Es war Ahmed. Über seiner Schulter hing eine Sporttasche, und an der Sporttasche hingen Boxhandschuhe. Ahmeds Haut glänzte schweißnass, aber bei diesem Wetter konnte man nicht sagen, ob jemand auf dem Weg ins Training war oder schon trainiert hatte. Ahmed war noch dunkler als meine Mutter. Er war offiziell Israeli, aber eigentlich Palästinenser. Ich verstand nicht, wie das sein konnte, aber im Grunde war es mir egal.
Ich überlegte einen Moment, ob ich ihm von unserem Gewinn erzählen sollte, aber dann ließ ich es sein. Ich wollte ihn nicht traurig machen. Ahmed war nach Deutschland gekommen, um Chemie zu studieren, aber aus irgendwelchen Gründen kam er nicht richtig voran. Wenn meine Mutter ihn fragte, wie es ihm ginge, lachte er und sagte jedes Mal: »Gut, gut!« Aber seit Kurzem schwieg er. Ich wusste, dass er seinen Job als Prospektverteiler verloren hatte.
»Wir wollten ans Meer fahren«, sagte ich stattdessen. »Aber wahrscheinlich bleiben wir hier.« Ich legte den Italien-Katalog neben mich auf den Boden. »Ist alles viel zu teuer.«
»Fahrt doch an die Nordsee. Das ist nicht so weit, und ich habe gehört, es soll sehr schön sein.«
Ahmed schloss seine Tür auf. Er wohnte direkt neben uns. Wenn wir bei irgendetwas Hilfe brauchten, dann klopften wir bei ihm. Er hatte viel Kraft und große Hände, mit denen er jedes Marmeladenglas aufbekam. Ich mochte Ahmed. Er roch nach Seife und Shisha, und er hatte die längsten Wimpern, die ich jemals gesehen hatte. Außerdem hatte er gute Ideen.
Ich stand auf. Am liebsten wäre ich direkt noch einmal ins Reisebüro gegangen und hätte einen Deutschland-Katalog besorgt. Aber nachmittags hatte das Reisebüro geschlossen. Stattdessen holte ich von drinnen meinen Schulatlas, Zettel und Stift und einen Taschenrechner. Ich öffnete den Atlas und suchte eine Übersichtskarte. Von hier aus gab es mehr als eine Autobahn in den Norden. Die Autobahnen führten natürlich nicht ganz bis ans Meer. Niemand wollte am Strand sitzen, wenn hinter einem die Autos vorbeischossen. Aber es gab genügend Landstraßen. Ich suchte die kürzeste Strecke. Dann notierte ich mir den Namen des Ortes. Ich fing an zu rechnen. Wir hatten genug Geld, um das Benzin zu bezahlen. Vielleicht konnten wir sogar eine Nacht in einem Hotel schlafen.
Am Ende zeichnete ich die Sonne, einen Strand und das Meer auf den Zettel und schrieb ›Nordsee‹ darüber.
»Was machst du da?«, fragte meine Mutter hinter mir.
Sie war vor zehn Minuten von der Arbeit zurückgekommen. Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass ihre Jeans und ihr T-Shirt im Flur auf dem Boden lagen. Wenn sie aus dem Büro kam, ließ sie ihre Klamotten einfach fallen. Dann schob sie das Mittagessen in die Mikrowelle.
Meine Mutter beugte sich mit einem dampfenden Stück Lasagne über die Rückenlehne meines Liegestuhls.
»Ich dachte, du hast jetzt Ferien«, sagte sie mit Blick auf den Atlas.
»Ich plane unseren Urlaub.«
Ich nahm den Teller und stellte ihn neben mich auf den Boden. Meine Mutter zog den zweiten Liegestuhl näher an meinen.
»Zeig mal«, sagte sie.
Nach drei Sekunden gab sie mir meine Notizen zurück.
»Nein. Auf gar keinen Fall. Wie kommst du darauf?« Meine Mutter verschränkte die Arme vor ihrem Körper.
»Warum nicht?«, wollte ich wissen.
»Was sollen wir an der Nordsee?«, fragte sie. »Am Strand frieren? Wir mögen keinen Wind, hast du das vergessen?«
»Es sind tausend Grad. Wir werden nicht frieren.«
»Lass uns nach Frankreich fahren«, sagte meine Mutter und lehnte sich zurück.
»Frankreich ist zu teuer«, sagte ich. »Wir könnten uns gerade so die Fahrt leisten. Wo sollen wir schlafen?«
»Da fällt uns schon was ein«, sagte meine Mutter und trank einen Schluck von meiner Cola.
»Ach ja, und was?«
»Es ist warm. Wir könnten draußen schlafen.«
»Und wenn es regnet?«
»Dann schlafen wir im Auto.«
Als meine Mutter mein Gesicht sah, sagte sie: »Wusstest du, dass es Menschen gibt, die ihr ganzes Leben in einem Auto verbringen? Ich wette, sie verpassen ihrem Auto jedes Jahr einen neuen Anstrich.«
Ich mochte unseren Nissan, das war nicht das Problem. Der Nissan war der einzige Luxus, den wir uns leisteten. Meistens fuhren wir mit dem Bus. Manchmal kauften wir sogar Fahrscheine. Nur manchmal, wenn ein neuer Monat begann, fuhren wir mit dem Nissan in die Stadt.
Das Problem war, dass unser Wagen seit einem Jahr keinen TÜV mehr hatte. Außerdem schloss die Beifahrertür nicht richtig. Aber meine Mutter war erfinderisch: Sie hatte die Tür mit einem dicken Stück Schnur am Rahmen befestigt. In den Kurven musste ich sie aber trotzdem festhalten wie einen geliebten Menschen, der über einem Abgrund baumelt.
»Denk an die übereifrigen Polizisten, die einen wegen so etwas anscheißen, anstatt richtige Verbrecher zu jagen«, hatte sie einmal gesagt.
Aber so schnell gab ich nicht auf.
»Es ist schön an der Nordsee«, sagte ich.
»Woher willst du das wissen?«, fragte meine Mutter.
»Von Ahmed. Woher willst du wissen, dass es nicht schön ist?«
»Manche Sachen weiß ich einfach.«
Ich hatte keine Ahnung, was meine Mutter gegen die Nordsee hatte. Ich stand auf, nahm den Stapel Reisekataloge und ließ ihn auf den Boden fallen.
»Hey, was soll das?«, fragte meine Mutter.
»Wenn du schon alles weißt, habe ich die ja umsonst besorgt.«
Meine Mutter starrte auf die Kataloge. Auf dem Katalog ganz oben war ein Flamingo abgebildet.
»Ist das Florida?«
Ich nickte.
Meine Mutter schob ihre Sonnenbrille in den Haaransatz.
»Hast du den extra für mich geholt?«
»Ja«, sagte ich, und da nahm meine Mutter mich in den Arm. Natürlich umarmte ich sie zurück. Wenn man nur zu zweit ist, ist es besser, sich schnell wieder zu vertragen.
»Hey, was ist denn bei euch los?«
Luna war herausgekommen. Ihre Schritte auf den Fliesen machten ein schmatzendes Geräusch, das von den Flip-Flops kam. Sie trug sie den ganzen Sommer lang. Sie hatte sie im Internet entdeckt, ein Paar kostete nicht mehr als eine Kugel Eis. Weil der Versand aber viermal so teuer war, hatte Luna einfach einen ganzen Berg davon bestellt. Jetzt besaß sie Flip-Flops in allen Farben des Universums. Die Flip-Flops waren aus China und aus Kunststoff. Meine Mutter sagte, dass Luna davon Hautkrebs an den Füßen bekommen würde. Es sei nur eine Frage der Zeit.
Wir rückten auseinander.
»Wir fahren in den Urlaub«, sagte meine Mutter.
Luna schnappte sich die Kataloge und setzte sich zwischen uns auf den Boden. Und dann erzählte meine Mutter, dass wir gewonnen hatten. Zum Schluss sagte sie: »Billie will an die Nordsee fahren, aber ich will nach Frankreich.«
»Frankreich!«, sagte Luna in meine Richtung. »Denk an die Croissants. Und ist da nicht auch das Wetter besser?«
Was hatten nur alle mit dem verdammten Wetter? Ich wollte gerade etwas sagen, aber Luna redete schon weiter.
»Außerdem haben die Franzosen einen coolen Lifestyle. Wie sagt man?«
»Savoir vivre?«, fragte ich.
»Nee, das hieß irgendwie anders.«
»Laisser-faire?«
»Genau das«, sagte sie.
Meine Mutter sah mich an und grinste. Mir war klar, dass ich keine Chance mehr hatte. Ich war gerade von jemandem überstimmt worden, der im Grunde gar kein Stimmrecht hatte. Ich seufzte. Wenn meine Mutter sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war sie nicht davon abzubringen. Und mit den Croissants hatte Luna ja recht.
Luna kramte aus der Tasche ihrer Shorts ein Fläschchen Nagellack. Sie ließ den Nagellack in den Schoß meiner Mutter fallen und lachte, als hätte jemand einen Witz gemacht.
Luna lachte oft ohne richtigen Grund. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass Luna gleichzeitig der fröhlichste und der traurigste Mensch war, den ich kannte.
Luna hatte mehr Träume am Tag als ich in der Nacht. Ihr größter Traum war, einen Mann zu heiraten, der sie von ihren Schulden erlöste.
»Darauf kann sie lange warten«, sagte meine Mutter einmal.
Meine Mutter schraubte das Fläschchen auf und nahm Lunas Hand. Meine Mutter und Luna lackierten sich oft gegenseitig die Nägel. Luna lackierte meiner Mutter die rechte Hand, weil meine Mutter Rechtshänderin war, und meine Mutter lackierte Luna die linke Hand, weil Luna Linkshänderin war.
Der Lack sah aus wie geschmolzenes Vanilleeis.
»Wann bekomme ich endlich eine Postkarte aus Hollywood?«, fragte meine Mutter.
Während Luna auf den richtigen Mann wartete, versuchte sie, Schauspielerin zu werden. Das war ihr zweiter Traum. Sie lernte dauernd Texte: unten bei den Waschmaschinen, in der Schlange beim Discounter und wenn sie die Sonnenbänke desinfizierte. Sie wartete darauf, entdeckt zu werden.
»Bald«, sagte Luna. »Und dann kaufe ich ein großes Haus, in dem wir zusammenleben können.«
Luna hatte ständig solche Ideen. Ich dachte, dass wir doch schon in einem großen Haus zusammenlebten, Wand an Wand sogar, und sagte nichts dazu.
»Und du? Wovon träumst du?«, fragte Luna meine Mutter.
Meine Mutter schwieg. Dann sagte sie: »Von einer Klimaanlage.«
Luna lachte. »Okay. Und jetzt wirklich?«
»Von Frankreich. Ab heute träume ich von Frankreich.«
Meine Mutter lehnte sich zurück und schloss die Augen.
»Und was ist dein Traum?«, fragte Luna jetzt mich.
Ich musste nicht lange nachdenken.
»Ich will Schriftstellerin werden«, sagte ich.
»Pass auf, was du sagst«, sagte meine Mutter zu Luna. »Sie schreibt den ganzen Tag lang Sachen in ihr Notizheft.«
Später füllte ich Popcorn in eine Plastikschüssel und stellte sie zusammen mit der Colaflasche und Gläsern auf den Wohnzimmertisch. Luna brachte Chips mit.
»Süß und salzig«, sagte sie und steckte sich Chips und Popcorn gleichzeitig in den Mund. »Wenn ihr euch entscheiden müsstet … Was würdet ihr nehmen?«
»Süß«, sagte meine Mutter.
»Salzig«, sagte ich.
Wir machten den Fernseher an und warteten auf Lunas Auftritt. Währenddessen hatte ich die ganze Zeit den Duft ihrer frisch gewaschenen Haare in der Nase. Sie rochen nach Kokosnuss.
»Da! Da hinten!«, schrie meine Mutter plötzlich.
Luna saß in einem Bahnabteil und hielt dem Schaffner ihr Ticket hin. Wir spulten ungefähr achtundsiebzig Mal zurück.
Wir ließen uns gerne von dem anstecken, was Luna ihr »Glamourleben« nannte.