I ch hatte mir immer wieder gewünscht, dass meine Großmutter verschwand. Ich schloss die Augen und ließ sie verschwinden wie ein Zauberer das Kaninchen. Ich steckte sie in ihren Koffer, klappte ihn zu, und wenn ich ihn wieder öffnete, war sie weg.
Aber nach und nach gewöhnte ich mich daran, dass meine Großmutter bei uns war. Die Tage flossen ineinander, und meistens wusste ich abends nicht mehr, bei welchem Arzt sie morgens gewesen war.
Der erste Arzt, zu dem Ahmed meine Großmutter gefahren hatte, war ein Hausarzt. Der hatte meine Großmutter untersucht und sie dann zum Ohrenarzt geschickt, um den Schwindel abzuklären, aber der Ohrenarzt fand keine Ursache. Dafür stellte er fest, dass meine Großmutter ein bemerkenswert gutes Gehör hat. Danach saßen meine Großmutter und meine Mutter wieder beim Hausarzt im Wartezimmer. Der Hausarzt überwies meine Großmutter zum Kardiologen, und der Kardiologe machte eine ganze Reihe Tests mit ihr. Ultraschall, EKG , Belastungs-EKG und verordnete ein Langzeit-EKG . Mit dem Herzen meiner Großmutter war alles in bester Ordnung. Meine Großmutter beharrte trotzdem darauf, dass etwas damit nicht stimmte.
»Es setzt aus, es schlägt doppelt, es schlägt zu schnell, es ist das reinste Chaos«, sagte sie, und da untersuchte der Kardiologe sie ein zweites Mal. Er kam zu dem gleichen Schluss wie zuvor: Das Herz meiner Großmutter war fit wie das eines jungen Mädchens.
In der dritten Woche verlor ich den Faden. Ich weiß nur, dass meine Großmutter auch noch zum Gastroenterologen, Orthopäden, Diabetologen, Allergologen, Neurologen und zum Rheumatologen ging, allerdings würde ich meine Hand nicht dafür ins Feuer legen, dass das die richtige Reihenfolge war.
Und ebenfalls in der dritten Woche verlor meine Mutter die Geduld. Natürlich hätte sie das niemals zugegeben. Aber ich wusste es auch so.
»Wenn man einmal mit dieser Arztsache angefangen hat, dann kommt man nicht wieder raus«, sagte sie, und direkt danach: »Ich bin mal kurz unten.«
Nachdem ich über eine Stunde gewartet hatte, dass sie zurückkam, suchte ich sie.
Ich fand meine Mutter im Nissan.
»Führerschein und Fahrzeugpapiere«, sagte ich mit tiefer Stimme. Meine Mutter zuckte zusammen. Sie hatte die Scheiben halb heruntergelassen. Das ganze Auto roch nach Rauch und nach etwas anderem, irgendwie süßlich. Der Aschenbecher stand auf dem Beifahrersitz, sie hatte ihn aus Alufolie selbst gebastelt. Darin lagen drei Kippen, alle nur halb aufgeraucht.
»Gottverdammt, musst du mich so erschrecken?«, fluchte meine Mutter und drückte eilig eine weitere Kippe aus. Von der Zigarettenleiche stieg ein letzter, dünner Rauchfaden auf. Ich wusste, dass meine Mutter heimlich rauchte, und sie wusste wahrscheinlich, dass ich es auch tat.
»Ha! Du bist abgehauen«, sagte ich.
»Bin ich nicht«, sagte meine Mutter.
»Weil du von deiner Mutter genervt bist.«
»Bin ich nicht«, sagte meine Mutter.
»Du kannst es ruhig zugeben, dass du jetzt lieber in Frankreich am Strand liegen würdest und dich in der Sonne braten und einen Kokosnuss –«
»Ich muss gar nichts zugeben, weil es nicht so ist«, sagte meine Mutter.
»Kommst du mit hoch?«
»Ja, gleich. Geh schon vor.«
Ich seufzte und verschwand.
Als ich in die Wohnung kam, lag meine Großmutter auf dem Sofa und hörte Musik.
»Márta Sebestyén?«, fragte ich.
Meine Großmutter setzte sich auf. Sie leuchtete, als hätte jemand eine Kerze in ihr angezündet. »Woher kennst du Márta?«, fragte sie, als wäre die Sängerin eine Freundin von ihr.
»Ich höre gerne ungarische Musik«, sagte ich. »Kennst du Ando Drom?«
Meine Großmutter schüttelte den Kopf.
Ich ging in mein Zimmer, zog eine CD aus meinem Regal und gab sie meiner Großmutter.
»Eine Roma-Musikgruppe?«, fragte sie.
»Ja.«
Ich legte die CD ein, und die Augen meiner Großmutter glänzten. Sie begann sofort mitzuwippen.
»Sehr schön!«, brüllte sie, und ich machte ein bisschen leiser. »Ich wusste gar nicht, dass man diese Musik in Deutschland kaufen kann.«
»Ich habe die CD s in der Bücherei ausgeliehen«, sagte ich.
»Sehr schön«, sagte meine Großmutter noch einmal. »Man darf nie vergessen, woher man kommt.«
In diesem Moment kam meine Mutter ins Wohnzimmer. »Was ist denn hier los?«
»Eine Party«, sagte ich.
»Aha«, sagte meine Mutter. »Das ist die schlechteste Party, auf der ich jemals war.«
»Du musst es ja wissen«, sagte meine Großmutter.
Meine Mutter warf meiner Großmutter einen scharfen Blick zu.
»Wann musst du heute in der Bar sein?«, fragte ich meine Mutter.
»Erst um acht«, sagte sie.
»Das sind ja noch fünf Stunden!«, stellte ich fest. In fünf Stunden konnte man ins Schwimmbad gehen, man konnte in der Stadt ein Eis essen, man konnte zwei Filme sehen oder über den Flohmarkt bummeln.
»Ich koche für uns«, sagte meine Großmutter. »Sag deiner Freundin, dass wir sie heute zum Abendessen einladen.«
»Du könntest fragen, ob wir einverstanden sind«, sagte meine Mutter.
»Seid ihr einverstanden, heute Abend etwas zu essen, das nicht mit ›Tiefkühl-‹ beginnt?«, fragte meine Großmutter. »Ihr müsst mehr Gemüse essen!«
Ich grinste.
Meine Mutter fand das überhaupt nicht witzig. Sie verschränkte die Arme und sah aus, als ob sie sich gleich übergeben müsste.
Ich hatte keine Ahnung, warum, aber es kam mir so vor, als ob meine Mutter umso gereizter wurde, je besser ich mich mit meiner Großmutter verstand. Natürlich wäre ich lieber mit meiner Mutter allein gewesen. Aber es sah nicht so aus, als ob meine Großmutter bald wieder verschwinden würde. Also versuchte ich, Frieden damit zu schließen, dass sie da war.
Manchmal unterhielt ich mich eine Weile mit ihr, wenn meine Mutter zur Arbeit gegangen war. Meistens erzählte sie dann Sachen über Ungarn.
Sie erzählte mir, dass ein Ungar den Zauberwürfel erfunden hatte, dass in Ungarn die größten Paprika der Welt wuchsen (»Sie können fünfzig Zentimeter lang werden!«), dass Kinder und Rentner kostenlos mit dem Bus und der Metro fahren dürfen und dass ungarische Eltern den Namen ihres Babys aus einer Liste auswählen müssen.
»Was für eine Liste?«, wollte ich wissen.
»Eine Liste mit gesetzlich genehmigten Namen. Sie wird von der Akademie der Wissenschaften herausgegeben.«
»Steht Billie da drauf?«
»Natürlich nicht!«, sagte meine Großmutter. »Deshalb ist dein Name Erzsébet.«
»Meine Mutter hat nichts von einer Liste erzählt. Sie hat gesagt, dass ich Erzsébet heiße, weil du gegen Billie warst.«
Meine Großmutter lachte. Es klang ein bisschen wie Hundegebell. »Deine Mutter macht sowieso, was sie will. Deshalb ist es gut, dass es Gesetze gibt.«
Manchmal versuchte ich, etwas über meine Mutter herauszufinden. Einmal sagte meine Großmutter: »Deine Mutter wollte, dass du es gut hast. Sie wollte, dass du in Deutschland ein besseres Leben hast.«
»Ein besseres Leben?«, hakte ich nach.
Meine Großmutter nickte. »Ja. Bildung und, wie heißt das?«
Ich hatte keine Ahnung, welches Wort sie suchte.
»Mehr soziale Teilhabe. So sagen sie das im Fernsehen.«
Wir schwiegen einen Moment lang.
Dann sagte meine Großmutter: »Deine Mutter wollte immer weg. Deshalb ist sie auch abgehauen.«
»Nach Deutschland oder wie?«
»Zuerst nach Budapest. Ich bin vor Sorge fast verrückt geworden. Sie war erst vierzehn.«
»Was? Hast du sie nicht gesucht?«
Meine Großmutter schnalzte mit der Zunge. »Das hätte sie nicht gewollt.«
»Warum nicht?«
»Als Marikas Vater gestorben ist …«, begann meine Großmutter. Sie schaute auf ihre Hände und schwieg. Schließlich sagte sie: »Wenn du ein Teil aus einem Puzzle nimmst, stimmt das ganze Bild nicht mehr.«
»Und was hat sie in Budapest gemacht?«, fragte ich.
»Sie wollte Tänzerin werden.«
Ich sah meine Mutter vor mir. Ihre Arme und Beine waren viel graziler und länger als meine. Ich sah sie vom Zehnmeterturm springen, ich sah ihre Körperbeherrschung. Immer wenn sie ins Wasser eintauchte, spulte ich meinen inneren Film zurück. Dann flog sie nach oben, zurück auf die Plattform.
»Und wie ging es dann weiter?«, fragte ich.
»Das fragst du sie am besten selbst«, sagte meine Großmutter. Sie griff nach ihren Sticksachen. Den Kopf des mongolischen Steppenpferds hatte sie schon fertig.