U nser See lag versteckt in einem Waldstück. Er war zu weit von unserem Block entfernt, um zu Fuß zu gehen. Wir mussten ein Stück auf der Autobahn fahren. Ich kurbelte das Fenster herunter und steckte meinen Kopf nach draußen. Ich mochte es, wenn mir der heiße Fahrtwind ins Gesicht blies und ich beinahe nicht mehr atmen konnte. Meine Mutter sang ein Lied aus dem Radio mit, und es klang verdammt falsch. Als ich mir die Ohren zuhielt, sang sie noch lauter und noch schräger.
Der Wald schluckte die Geräusche der Autobahn. Es war nichts zu hören außer dem Wind in den Bäumen, den Vögeln in der Luft und den Insekten über der Wasseroberfläche. Ich konnte nicht fassen, dass wir die Einzigen waren. Es war, als ob der See uns gehörte. Es war zwar verboten, darin zu baden, aber wir kümmerten uns nicht darum. Wir legten unsere Sachen ans Ufer und ließen uns ins Wasser gleiten.
Als wir den See damals entdeckt hatten, war das riesige Schild nicht zu übersehen gewesen. Es war verboten, zu baden, zu schwimmen, zu grillen und zu zelten. Außerdem verboten waren: Hunde, Fußbälle, Fahrräder und Feuer.
Ich fragte: »Warum ist alles verboten, was Spaß macht?«
»Weil die meisten Menschen schon tot sind, bevor sie sterben«, sagte meine Mutter, schlüpfte aus ihren blauen Stoffschuhen und rief: »Wer als Erster im Wasser ist, hat gewonnen!«
Später verstand ich, dass es immer jemanden gab, der bereit war, die Natur für ein bisschen Spaß zu zerstören. Aber wir hätten das nie getan. Meine Mutter gehörte zu den »Wehe-du-lässt-das-Papier-hier-fallen«-Menschen. Meine Mutter betrachtete die meisten Verbote eher als Aufforderung, selbst nachzudenken. Und deshalb hatte sie eigene Regeln aufgestellt.
Wir cremten uns nie ein, bevor wir im See badeten.
»Die Fische können den See nicht verlassen.«
Wir nahmen nie Pflanzen mit.
»Jede ausgerissene Pflanze wird von mindestens einer anderen vermisst.«
Wir spuckten unsere Kaugummis nie auf den Boden.
»Vögel könnten daran ersticken.«
Wir schwammen zur anderen Seite, kletterten auf den Holzsteg, ruhten uns aus und ließen uns trocknen. Als unsere Mägen anfingen zu knurren, schwammen wir zurück, und meine Mutter packte das Essen aus. Es war ein Festmahl. Es gab Nudelsalat mit Erbsen und Fleischwurst. Es gab Brötchen, in die ich meine Finger hineinbohren konnte, um das weiche Innere herauszuholen. Es gab kalte Hähnchenschlegel mit Chilisauce. Zum Nachtisch aßen wir Schokoladenkuchen.
Nach dem Essen dösten wir im Schatten. Im Wald knackten Äste, irgendwo quakte ein Frosch. Ich lag auf dem Bauch, meine Mutter lag auf dem Rücken und schirmte mit ihrem Strohhut ihr Gesicht gegen die Sonne ab.
»Deine Großmutter hat es mir einfach nicht beigebracht«, sagte meine Mutter.
»Was hat sie dir nicht beigebracht?«
Manchmal blieben die Gedanken meiner Mutter irgendwo in ihrem Kopf stecken. Nur ein kleiner Teil schaffte es von dort bis in ihren Mund.
»Eine Familie zu sein.«
Ich dachte daran, was Lea gesagt hatte, und spürte einen Stich im Herzen. »Aber wir sind doch eine Familie. Eine kleine.«
»Ja, das sind wir.« Sie tastete nach meiner Hand.
Ich schwieg. Natürlich war mir klar, dass meine Mutter mehr als zwei Menschen meinte, wenn sie »Familie« sagte. Es musste schön sein, mehr als einen Menschen zu kennen, den man liebte. Man musste nur ins Zimmer nebenan gehen, dort saßen dann der Bruder, die Schwester oder der Vater. Es gab immer jemanden, der Zeit hatte.
»Warum hat sie es dir nicht beigebracht?«
Meine Mutter zuckte mit den Schultern. »Sie konnte es nicht besser. Wusstest du, dass ich fast geheiratet hätte, als ich so alt war wie du?«
Natürlich hatte ich das nicht gewusst.
»Was?« Ich setzte mich aufrecht hin und nahm meiner Mutter den Hut vom Gesicht.
»Hey!«, sagte sie und verdeckte ihre Augen mit dem Arm.
Ich hielt ihr die Sonnenbrille hin. »Wen?«
Meine Mutter nahm die Brille. »Einen aus dem Dorf. Immer wenn er mich mit seinem Moped abgeholt hat, lief der Radetzkymarsch. Er hat den Kassettenrekorder selbst ans Lenkrad geschraubt.« Sie lächelte.
»Hat er dir einen Heiratsantrag gemacht?«
Ihr Lächeln verschwand. »Nein. Irgendwann hat deine Großmutter gesagt: Ich habe seine Eltern zum Essen eingeladen.«
»Warum hat sie das gemacht?«
»Weil sie mit ihnen die Verlobung besprechen wollte.«
»Ich dachte, er hat dir keinen Heiratsantrag gemacht.«
»Das hat er auch nicht. Aber meine Mutter fand, dass er eine gute Partie ist.«
»Wolltest du ihn denn überhaupt heiraten?«
»Natürlich nicht!«, sagte meine Mutter. »Was denkst du denn? Ich wollte nicht mein ganzes Leben lang Kinder, Schweine und Hühner füttern!«
»Das heißt, der Moped-Typ ist nicht mein Vater?«
Hinter ihrer Sonnenbrille rollte meine Mutter mit den Augen. »Nein, das ist er nicht.«
»Wer dann?«
»Einer, der auch nicht wusste, wie das geht, eine Familie zu sein.«
Ich zog mein Notizheft und einen Kugelschreiber aus meinem Rucksack und schrieb den Satz auf.
»Was machst du da?«, wollte meine Mutter wissen.
»Ich sammle Informationen«, sagte ich.
»Informationen?«
»Über meinen Vater.«
»Zeig mal«, sagte sie.
Ich klappte das Heft schnell zu.
Meine Mutter seufzte.
»Alle haben Familien. Was ist so schwer daran?«, fragte ich.
»Wenn du einmal frei warst, ist es schwer, das wieder aufzugeben«, sagte meine Mutter.
»Bist du deshalb abgehauen, als du vierzehn warst? Weil du frei sein wolltest?«
Meine Mutter starrte mich an.
Scheiße, dachte ich. Ich hätte lieber nichts sagen sollen.
»Woher weißt du das?« Aber ich musste gar nicht antworten. Meine Mutter wusste schon Bescheid. »Es war ja klar, dass deine Großmutter den Mund nicht halten kann«, sagte sie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Ich sah auf den Boden. Ich hatte meine Mutter schon oft wütend erlebt, aber ich hatte sie noch nie weinen sehen.
»Es tut mir leid«, sagte ich.
Meine Mutter wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. »Es geht ums Prinzip«, sagte sie. »Es ist meine Vergangenheit. Nicht ihre. Wer weiß, welche Lügen sie dir erzählt hat.« Meine Mutter sprang auf.
»Warte«, sagte ich und hielt ihren Arm fest.
Sie zögerte einen Moment, aber dann setzte sie sich wieder hin. Und dann sagte ich meiner Mutter, was ich wusste. Ich sprach einfach so schnell, dass sie mich nicht unterbrechen konnte.
»Sie hat mir gar nicht viel erzählt«, sagte ich zum Schluss. »Erzählst du mir den Rest?«
»Okay«, sagte meine Mutter. »Okay.«
Ich erfuhr, dass meine Mutter an der staatlichen Akademie für Tanz in Budapest gelernt hatte. Sie sagte, dass sie von zu Hause weggelaufen war, um ein neues Leben zu beginnen. »Ich habe damals auch ein gelbes Sommerkleid getragen. Aber es hatte nicht so schöne Knöpfe.«
Ich schaute zu dem gelben Haufen Stoff, der neben mir lag.
»Als mein Vater starb, war meine Mutter wütend. Sie war wütend auf Gott, auf die Ärzte, auf mich.«
»Warum war sie auf dich wütend?«
»Weil ich sie an ihn erinnert habe.«
Ich schwieg und wartete, dass sie weiterredete.
»Die ganze Wut steckte in ihr drin und vergiftete sie. Sie hatte keine Worte dafür. Deshalb hat sie ihre Hände benutzt. Manchmal auch einen Gürtel oder einen Kochlöffel.«
Ich hörte das Klatschen einer Hand auf einer Wange, ich sah einen Kochlöffel an einer Schulter zerbrechen, ich sah rote Striemen auf dem Oberschenkel meiner Mutter. Es war, als ob sich eine Faust um mein Herz schloss.
Meine Mutter machte eine Pause und faltete die Hände.
»Aber wenn du tanzt, dann hast du deinen Körper für dich.«
Sie erzählte mir, dass sie in der Nacht zu ihrem vierzehnten Geburtstag abgehauen war. Ihren Rucksack hatte sie schon lange vorher gepackt und im Garten versteckt.
Als ich wissen wollte, wie sie sich in Budapest durchschlagen konnte, grinste sie. »Ich habe gesagt, ich sei sechzehn. Ich habe einen Job in der Oper bekommen.«
»Als Tänzerin?«
»Nein. Als Garderobiere.«
»Oh«, sagte ich. »Und wo hast du gewohnt?«
»In einem Haus direkt neben der Oper. Da wohnten fast alle, die an der Oper angestellt waren. Musiker, Tänzer und Schauspieler. Ich hatte Glück, es war noch ein winziges Zimmer frei.«
Meine Mutter durfte sich jede Vorstellung kostenlos ansehen. Wenn sie nicht gerade im abgedunkelten Saal die Bewegungen der Tänzerinnen studierte oder die Mäntel der Zuschauer entgegennahm, tanzte sie in jeder freien Minute. Sie tanzte heimlich im Spiegelsaal, da, wo die Tänzer probten.
»Irgendwann hat mich der Tanzlehrer erwischt. Dann hat er mich unterrichtet. Mit seiner Hilfe habe ich die Aufnahmeprüfung geschafft und ein Stipendium bekommen.«
Die Wangen meiner Mutter färbten sich rosa.
Ich sah meine Mutter durch die Wohnung tanzen zu einer Musik, die nur sie hörte. Ich dachte daran, wie ich gelacht hatte, weil es so merkwürdig aussah. Ich war fünf und hatte keine Ahnung von Ballett, aber jetzt wurde mir klar, dass sie dafür sehr, sehr lange trainiert haben musste.
Meine Mutter begann, eine Melodie zu summen. »Schwanensee«, sagte sie und griff sich ans Herz. »Ich war die Primaballerina, ich war Odette, und ich war Odile.«
Ich schaute sie fragend an.
»Odette ist der weiße, Odile der schwarze Schwan. Vielleicht kommt mal wieder eine Aufführung im Fernsehen. Dann schauen wir sie uns zusammen an.« Sie nahm meine Hand.
»Warum hast du aufgehört zu tanzen?«, fragte ich.
»Das Leben ist dazwischengekommen«, sagte sie und strich mir über den Kopf. »Gehen wir noch eine Runde schwimmen?«
Und das taten wir.
Unser Ausflug an den See war wie zum letzten Mal einzuatmen, bevor einem jemand den Kopf unter Wasser drückt.