E inen Tag nachdem meine Mutter gestorben war, begann die Sache mit den Haaren. Meine Haare fielen aus, als hätten sie beschlossen weiterzuziehen. Ich verabschiedete sie Büschel für Büschel.
Als ich auf dem Fußboden aufwachte, schien mir die Sonne ins Gesicht. Zuerst wusste ich nicht, wo ich war, aber dann fiel mir alles wieder ein. Ich sah meine Mutter auf dem Boden liegen. Ich hörte, wie es rumste, ich spürte ihre Hand in meiner. Ich sah die Polizistin, die Krankenschwester, den Arzt, die Sozialarbeiterin und Frau Geiger. Der Schmerz bohrte sich in mein Herz und nahm mir den Atem, aber die Sonne schien einfach weiter.
Ich stand auf und schaute mich in meinem Zimmer um. Eine hohe Decke, ein Spiegel, zwei Fenster. Ein großes Bett. Eine Bibel auf dem Nachttisch. Mir fiel wieder ein, dass die Sozialarbeiterin irgendetwas von diakonischer Jugendhilfe gesagt hatte. Ich öffnete die Schranktüren und die Schubladen der Kommode, aber das Zimmer hatte keine Geheimnisse. An der Kleiderstange baumelten ein paar leere Bügel, auf dem obersten Regalbrett lag eine Wolldecke. In der Kommode waren Handtücher und Bettwäsche verstaut.
Es klopfte an der Tür. Davor stand ein Junge. Seine Haare waren dunkel und strubbelig, seine Augen schimmerten wie glatte Steine.
»Hi, ich bin Marlene«, sagte er mit sanfter Stimme.
»Marlene?«, fragte ich, und da wurde mir klar, dass der Junge ein Mädchen war.
Sie nickte.
»Ich heiße Billie«, sagte ich.
»Cooler Name. Aber du siehst gar nicht aus wie eine Amerikanerin.«
»Und du siehst nicht aus wie ein Mädchen.«
Ich spürte, wie ich rot wurde. Manchmal waren meine Worte wie wilde Tiere, die ich am liebsten gezähmt hätte. Aber Marlene lachte, lief an mir vorbei und setzte sich auf mein Bett. Ich setzte mich neben sie.
»Wo auch immer du geschlafen hast, hier drin nicht«, sagte sie und zupfte an einer Ecke des Kopfkissens.
Ich zuckte mit den Schultern und schaute auf meine Füße.
»Wie alt bist du?«, wollte sie wissen.
»Vierzehn. Und du?«
»Siebzehn.«
»Wie lange bist du schon hier?«, fragte ich.
»Noch nicht so lange. Ich bin mit fünfzehn von zu Hause abgehauen. Seitdem bin ich mal hier und mal dort.«
Ich dachte daran, dass Frau Geiger gesagt hatte, dass es für beinahe jeden eine Pflegefamilie gibt. Vielleicht hatte das »beinahe« mit Marlene zu tun. Ich wollte sie fragen, warum sie weggelaufen war, aber ich traute mich nicht. Vielleicht war es ein Geheimnis. Aber falls Marlene Geheimnisse hatte, gehörte die Geschichte ihrer Familie nicht dazu.
»Ich bin dauernd ausgerastet, ich hatte den Finger immer am Abzug.«
Marlene krempelte den Ärmel ihres Jeanshemdes nach oben. Die Narbe reichte von der Mitte ihres Oberarms bis zu ihrem Ellenbogen. Sie war rot, erhaben und an den Rändern gezackt. Ich hatte noch nie eine so lange Narbe gesehen.
»Darf ich mal?«, fragte ich.
»Klar.«
Vorsichtig fuhr ich mit den Fingern darüber. »Wer war das?«
»Meine Mutter«, sagte Marlene.
Ich starrte sie an. »Deine Mutter?«
Marlene nickte.
»Warum hat sie das gemacht?«
»Ich habe in der Küche Gemüse geschnitten, und ihr neuer Typ hat mir an den Hintern gefasst. Meine Mutter hat’s gesehen, und dann … ratsch.« Mit einem erfundenen Messer ritzte sich Marlene in den Arm.
»Oh«, sagte ich.
Wir schwiegen einen Moment.
Dann fragte Marlene: »Hast du auch Probleme mit deiner Mutter?«
»Nein«, sagte ich.
»Es gibt nichts, was dich an ihr aufregt?«
Ich dachte nach. »Nein«, sagte ich noch einmal, aber Marlene hörte das Zögern in meiner Stimme. »Vielleicht, dass sie mich alleingelassen hat«, sagte ich.
»Ist sie abgehauen?«
»Nicht direkt«, sagte ich. Und dann machte ich eine idiotische Geste, die darstellen sollte, dass meine Mutter tot war. Marlene begriff sofort.
»Oh«, sagte sie. »Und was ist mit deinem Vater?«
»Meine Mutter hat mir nie etwas über meinen Vater erzählt.«
»Dann kennst du ihn gar nicht?«, sagte Marlene.
Ich schüttelte den Kopf.
»Wolltest du nie wissen, wer er ist?«
»Doch, klar. Aber meine Mutter hat immer ein Geheimnis daraus gemacht.«
»Das ist mehr, als die meisten hier haben«, sagte Marlene. »Das ist eine Chance. Du solltest ihn suchen.«
»Vielleicht ist er tot. Oder er ist ein Arsch.«
»Vielleicht. Aber auf jeden Fall muss er ihr wichtig gewesen sein.«
Ich dachte an all die Gespräche, die meine Mutter abgebrochen hatte, bevor sie richtig begannen. Ich dachte an die weißen Cowboystiefel, die er ihr geschenkt hatte und die sie hatte tragen wollen, bis sie auseinanderfielen. Ich dachte an das, was meine Mutter am See nicht gesagt hatte. Ich hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Marlenes Gedanken blieben scheinbar nie lange am selben Ort.
»Komm, ich zeig dir mein Zimmer«, sagte sie.
Als Erstes sah ich den Boxsack, der in der Mitte von der Decke baumelte. Auf dem Boden lagen Klamotten, das Bett war nicht gemacht, die Bettwäsche bunt bedruckt.
»Willst du ihn ausprobieren?«
Marlene reichte mir die roten Handschuhe, die auf einem Stuhl lagen. Ich nahm die Handschuhe, aber ich wusste nicht, auf wen ich wütend sein sollte.
»Das kommt noch«, sagte sie und legte die Handschuhe zurück.
Ich sah nichts, was verraten hätte, wer Marlenes Familie war. Es gab keine Fotos, keine Postkarten, nichts.
»Vermisst du deine Familie?«, fragte ich.
»Manchmal«, sagte Marlene, ohne mich anzuschauen. Und dann sagte sie: »Es tut mir leid, dass deine Mutter nicht mehr lebt.« Sie schwieg einen Moment. »Wenn du dich einsam fühlst, kannst du hier bei mir schlafen. Und du kannst immer den Boxsack benutzen. Immer. Auch wenn ich nicht hier bin, okay?« Sie zögerte, bevor sie weitersprach. »Aber meistens werde ich hier sein.«
Niemand wusste so gut wie sie, dass das Heim eine Drehtür hatte. Die meisten gingen raus und direkt wieder rein, weil die Pflegeeltern sich alles ganz anders vorgestellt hatten. Marlene schaute mir in die Augen, und am liebsten hätte ich geweint. Ich kannte diesen Blick. Die Kinder auf den Fotos im Treppenhaus schauten genau so. Es war der Ich-weiß-wie-sich-Einsamkeit-anfühlt-Blick.
Noch am selben Nachmittag kam jemand von der Kriminalpolizei ins Jugendheim. Ich sollte zum Tod meiner Mutter befragt werden. Der Beamte trug keine Uniform, sondern ein weißes Hemd und eine Krawatte. Er hatte graue Schläfen, Klavierspieler-Hände und roch nach Rasierwasser.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er jemandem ins Bein schoss. Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, dass er ein Polizeiauto fuhr. Und erst recht nicht, dass irgendjemand auf der Welt vor ihm Angst hatte. Bestimmt war er extra dafür eingestellt worden, sich mit Mädchen wie mir zu unterhalten.
In Frau Geigers Büro saßen wir einander gegenüber. Frau Geiger hatte uns eine Flasche mit Limonade hingestellt. Ich trank einen Schluck. Die Limonade kitzelte in meiner Nase, und meine Augen tränten.
»Ich muss unser Gespräch aufzeichnen«, sagte er und zog ein kleines schwarzes Gerät aus seiner Aktentasche. Er krempelte die Ärmel bis zu den Ellenbogen hoch und legte die Arme locker auf die Tischplatte.
»Wir müssen wissen, was passiert ist. Dafür brauchen wir deine Hilfe.«
»Okay«, sagte ich.
»Gut.« Er räusperte sich. »Hat deine Großmutter bei euch gewohnt?«
»Ja.«
»War das temporär?«
»Was heißt temporär?«
»Temporär heißt, dass etwas nur für eine gewisse Zeit ist.«
»Ja, sie sollte nur so lange bei uns bleiben, bis sie wieder gesund ist.«
»Welche Krankheit hat sie?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Etwas stimmt nicht mit ihrem Herz.«
Der Beamte blätterte durch einen Stapel Papiere. Auf einem erkannte ich den Schriftzug der Uniklinik. Ich verstand nicht, warum er mich gefragt hatte, wenn er es einfach nachlesen konnte. Er sah auf. »Ich würde gerne über den Tag sprechen, an dem deine Mutter gestorben ist.«
Mein Magen hob sich ganz kurz, so wie wenn wir mit unserem Nissan über einen Hügel rasten und ich das Gefühl hatte zu fallen.
»Erzähl bitte alles, was passiert ist. Es ist wichtig, dass du auch das erzählst, wovon du denkst, dass es nicht so wichtig ist. Du kannst dir Zeit lassen.«
Der Polizist lehnte sich zurück. Vielleicht wollte er Platz für meine Gedanken schaffen.
Ich fing an zu erzählen. Aber je mehr ich darüber nachdachte, was passiert war, desto unsicherer wurde ich. Je mehr ich mich bemühte, die Wahrheit zu sagen, desto unschärfer wurde der Film in meinem Kopf. Ich wusste, dass Wörter wie Kugeln waren. Aber ich schoss dauernd daneben.
»Es gab also einen Streit. Worum ging es dabei?«, fragte er.
»Aber das habe ich doch gerade erzählt.«
Mein T-Shirt klebte mir am Körper.
»Hör zu, es tut mir leid, aber ich muss dir noch ein paar Fragen stellen. In Ordnung?« Dieses Mal wartete er meine Antwort nicht ab. »Also, worüber habt ihr gestritten?«
»Meine Mutter und meine Großmutter haben über die Vergangenheit gesprochen. Meine Mutter wollte aber eigentlich nie darüber reden.« Und dann fiel mir plötzlich die Sache mit den Tabletten wieder ein. »Ich habe mich eingemischt«, flüsterte ich.
»Wie meinst du das?«, fragte der Beamte, und sein Blick ruhte auf mir.
»Ich habe meiner Mutter gesagt, dass meine Großmutter ihre Tabletten weggeworfen hat.«
»Was war da genau passiert?«
»Ich habe sie dabei beobachtet, wie sie ihre Tabletten in der Toilette runtergespült hat.«
»Wann war das?«
»Am Morgen. Ich bin frühmorgens aufgewacht und wollte ins Bad gehen. Die Tür war nur angelehnt, und ich habe gesehen, wie sie die Tabletten in der Toilette runtergespült hat.«
»Hast du deine Großmutter darauf angesprochen?«
»Ja. Ich habe sie gefragt, warum sie ihre Tabletten wegwirft. Sie hat gesagt, dass sie das nicht getan hat.«
»Was denkst du, warum hat sie ihre Tabletten weggeworfen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Wann hast du deiner Mutter von deiner Beobachtung erzählt?«, fragte der Beamte.
»Während sie mit meiner Großmutter gestritten hat.«
»Wie hat deine Mutter reagiert?«
»Sie war sehr wütend. Und sie wollte abhauen.«
»Und was hat deine Großmutter daraufhin getan?«
»Sie hat gesagt, dass alles meine Schuld ist. Sie ist auf mich losgegangen. Meine Mutter ist auf das Sofa gesprungen, meine Großmutter hat sie abgewehrt. Dann hat meine Mutter das Gleichgewicht verloren. Und dann ist sie vom Sofa gestürzt.«
»Vielen Dank, Billie.« Der Beamte klopfte die Papiere mit der Unterkante auf den Tisch und steckte sie in eine Mappe aus Karton.
»Was passiert jetzt mit meiner Großmutter?«
»Wir vernehmen sie, und dann sehen wir weiter.«
Ich war sicher, dass sie sie ins Gefängnis stecken würden. Wäre sie nicht gewesen, würde meine Mutter noch leben.
»Ruf mich bitte an, wenn dir noch etwas einfällt.« Er schob eine Visitenkarte über den Tisch in meine Richtung. Ich steckte sie in meine Hosentasche.
In meinem Zimmer betrachtete ich mich lange im Spiegel. Aber es war, als ob ich nicht mich anschaute, sondern eine Fremde. Es war, als hätte eine Fremde den Platz in diesem Leben eingenommen, das gar nicht mehr meins war. Ich nahm einen zweiten Spiegel zu Hilfe, um die kahle Stelle sehen zu können, die ich ertastet hatte. Sie war so groß wie eine Münze und genauso rund. Meine Kopfhaut schimmerte perlweiß. Es sah aus, als wären dort niemals Haare gewachsen.