E inen Tag nach der Beerdigung meiner Mutter verlor der Sommer an Kraft. Es war, als hätte ihn jemand heruntergedimmt. Die Nächte wurden kühler, und im Schwimmbad wurde das Wasser abgelassen. In einer Woche würde die Schule wieder losgehen.
Ich träumte weiterhin von meiner Mutter. Es gab einen Traum, der immer wiederkehrte. Ich stand auf dem Zehnmeterturm, unter mir glitzerte die Wasseroberfläche, auf der Wiese stand meine Mutter. Dann sprang ich. Während ich fiel, sah ich, dass das Becken leer war. Ich schrie nach meiner Mutter, aber sie war verschwunden. Ich wusste, dass mein Körper in wenigen Sekunden zerplatzen würde wie die Melone, die einmal jemand aus dem elften Stock geworfen hatte.
Es wurde Zeit, dass ich nach Hause zurückkehrte. Nachmittags holte ich den Bildband. Als ich nach unten kam, war Frau Geigers Tür geschlossen. Sie telefonierte. Ich nahm das Buch aus dem Regal und steckte es in meinen Rucksack. Mein Blick blieb an den Zetteln und Prospekten hängen, die auf der Fensterbank neben dem Bücherregal lagen. Ich schnappte mir einen Stadtplan und einen Busfahrplan und steckte beides vorne in den Bund meiner Jeans. In meinem Zimmer packte ich meine Sachen und überprüfte, ob mein Haustürschlüssel und Lunas Geld noch da waren. Ich nahm einen Schein weg und steckte ihn in die Hosentasche. Dann schob ich den Rucksack unter das Bett. Das Ganze dauerte nicht länger als ein paar Minuten. Ich sah mir den Busfahrplan genauer an. Ich durfte nicht zu lange warten. Je später es wurde, desto weniger Busse fuhren in meine Richtung.
Als es dämmerte, machte ich mich auf den Weg. Die Luft war schon kühl, und es roch nach Erde, Beton und Regen. Aber es war, als ob mich eine unsichtbare Glasscheibe davon trennte.
In meiner Hosentasche entdeckte ich eine Zigarette. Die musste von Luna sein. Das Papier war zerknittert und an einer Stelle aufgeplatzt. Die Tabakfäden hingen heraus. Ich zündete sie an und inhalierte tief. Aber alleine rauchen kam mir sinnlos vor.
Ich fragte mich, wie viele »aber« noch kommen würden. Vielleicht war das jetzt mein Leben. Mir war natürlich klar, dass ein »aber«-Leben kein richtiges Leben ist. Luna würde sagen, dass es ein Leben mit angezogener Handbremse ist.
Die Haltestelle war in einer Parallelstraße vom Jugendheim. Als der Bus kam, stieg ich ganz hinten ein. Der Busfahrer beachtete mich nicht.
Unser Wohnblock war schon von Weitem zu sehen. In vielen Wohnungen brannte noch Licht. Mir fielen die Bilderbücher ein, die bei Leas jüngstem Bruder im Kinderzimmer lagen. In einem war ein aufgeschnittenes Haus zu sehen. In den Zimmern aßen, schliefen, badeten und spielten die Bewohner. Niemand wohnte ganz allein.
Ich stand eine halbe Stunde vor unserem Block. Ich hatte mein ganzes Leben darin verbracht. Ich stand auf dem Parkplatz und konnte nicht nach oben gehen. Alles um mich herum war still. Aber in meinen Ohren rauschte das Blut. Ich setzte mich auf den Boden.
»Billie?«
Ich drehte mich um. Uta. Ihr T-Shirt schlackerte um ihren Körper. Sie war dünn geworden, seit ich sie zuletzt gesehen hatte.
»Was ist los, Kleine? Warum sitzt du hier so rum?«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich wusste nicht, warum ich hier saß. Uta stellte die Plastiktüte, die sie in der Hand gehalten hatte, auf den Boden und setzte sich neben mich.
»Es ist hart, jemanden zu verlieren, den man liebt«, sagte sie.
Ich ballte meine Hand zur Faust. In meine linke Handfläche drückten sich kleine Steinchen, die der Asphalt hinterlassen hatte. Ich hasste es, dass alle dachten, sie wüssten Bescheid. Ich konnte nicht noch jemanden ertragen, der so tat, als würde er mich verstehen.
Ich sprang auf. »Woher willst du das wissen?«
Uta sah mich nicht an und nickte in Richtung der Plastiktüte.
»Ja und?«
»Da sind die Klamotten von Heinz drin.«
»Warum schleppst du seine Klamotten mit dir herum?«
»Ich wollte sie in den Altkleidercontainer werfen. Aber ich schaffe es nicht. Blöd, oder? Dabei sind es ja nur Klamotten. Und er wollte sie sowieso nicht mehr haben.« Uta sah auf ihre Hände und drehte an ihrem Ehering. »Herzinfarkt«, sagte sie, und dann: »Bumms, einfach tot.«
Uta wischte sich mit der Hand übers Gesicht. Sie sah auf einmal sehr müde aus. Ich wunderte mich, dass mich diese Nachricht nicht erleichterte. Ich fühlte nur eine große Leere. Ich verstand nicht, warum sie so traurig war, aber ich dachte daran, was meine Mutter über die Liebe gesagt hatte, und fragte nicht nach. Stattdessen setzte ich mich wieder hin.
»Willst du nicht hochgehen?«, fragte Uta.
Ich schüttelte den Kopf.
Dann sagte sie: »Am härtesten sind die ersten Male. Beim zweiten Mal wird es leichter.«
Meine Augen füllten sich mit Tränen.
»Gehen wir zusammen?«, fragte Uta und reichte mir die Hand.
»Okay«, sagte ich und wischte meine Nase an meinem T-Shirt ab. Dann nahm ich ihre Hand.
»Igitt«, sagte Uta und lächelte.
Als ich unsere Wohnung betrat, atmete ich tief ein und saugte unseren Zuhause-Duft in meine Lunge. Von dort breitete er sich in meinem ganzen Körper aus, und es tat gut, und es tat weh. Alles gleichzeitig.
Im Flur lagen die weißen Cowboystiefel meiner Mutter. Sie lagen mitten im Weg. Ich schaffte es nicht bis ins Wohnzimmer. Ich starrte die Schuhe an. Plötzlich verstand ich, dass meine Mutter nicht wiederkommen würde. Ihre Schuhe lagen genau dort, wo sie sie nach der Arbeit ausgezogen hatte.
Ich setzte mich auf den Boden, direkt neben die Schuhe, und weinte. Ich weinte und dachte an meine Mutter und weinte und dachte an all das, was sie getan und gesagt hatte, und an all das, was sie nicht getan und nicht gesagt hatte.
Einmal, im Park, hatte uns eine fremde Frau angesprochen, weil ich keine Mütze aufhatte. Es war so kalt, dass ich auf die zugefrorenen Pfützen sprang, um zu testen, ob das Eis hielt. »Sie ist cleveres Kind«, sagte meine Mutter zu der Frau.
Dann drehte sie sich zu mir und fragte: »Ist dir kalt auf Kopf?«
»Nein.«
Meine Mutter zuckte mit den Schultern. »Nicht kalt. Wenn kalt, dann Mütze!«
Ich erinnere mich daran, dass das Deutsch meiner Mutter damals noch kein gelbes Ei war, wie sie gesagt hätte.
Meine Mutter hielt sich nicht mit Kleinigkeiten auf. Aber manchmal war das, was andere für eine Kleinigkeit hielten, für sie eine große Sache.
Einmal waren wir auf dem Spielplatz gewesen. Außer uns waren nur ein kleiner Junge und seine Mutter da. Als er sich endlich getraut hatte, die Rutsche hinunterzurutschen, wollte er es immer wieder. Irgendwann sagte seine Mutter zu ihm: »Wenn du jetzt nicht kommst, gehe ich ohne dich!« Als meine Mutter der Frau von hinten auf die Schulter tippte, wusste ich schon, was als Nächstes passieren würde. Meine Mutter mischte sich ein. Die meisten Leute mögen es nicht besonders, wenn andere sich einmischen. »Er war drei Jahre alt, Billie!«, rechtfertigte meine Mutter sich später. »Wie kann man einem Dreijährigen drohen, ohne ihn zu gehen?«
Ich saß neben den Schuhen und weinte, weil ich wusste, dass meine Mutter mich niemals hätte alleinlassen wollen. Ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass sie noch mitbekommen hatte, dass sie es trotzdem tat. Ich hätte ihr gerne gesagt, wie scheiße es ist, dass sie gehen muss, aber dass ich schon klarkomme. Es wäre okay gewesen zu lügen.
Aber am schlimmsten war, dass ich nicht mehr wusste, was sie als Letztes zu mir gesagt hatte. Ich konnte mich einfach nicht daran erinnern.
Als ich keine Tränen mehr hatte, kamen Gedanken wie: Da war ein großer Schimmelfleck an der Decke. Der Hausmeister wollte ihn seit Monaten entfernen. In drei Wochen war die nächste Miete fällig. Und ich musste mich vor Frau Geiger und dem Jugendamt verstecken. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie mich finden würden. Dann dachte ich an Uta. Ich hätte sie gerne gefragt, was sie an Heinz vermisste. Ich hätte sie gerne gefragt, ob sie erleichtert war. Nur ein winziges bisschen.
»Männer bringen einen immer zum Weinen. Wir weinen, wenn sie da sind, und wir weinen, wenn sie weg sind. Wenn du einen findest, der dich zum Lachen bringt, dann ist das der Jackpot, verstehst du?«, hatte meine Mutter einmal gesagt.
Erst als mein Magen laut knurrte, stand ich auf. Der Küchenschrank war beinahe leer, aber ganz hinten fand ich noch eine Packung Nudeln mit Tomatensoße, alles in einem Paket. Ich stellte einen Topf mit Wasser auf den Herd.
Dann setzte ich mich an den Küchentisch und betrachtete die lila Rauten. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass wir jemals eine andere Tischdecke gehabt hatten. Die Farbe war ausgeblichen, und das Plastik klebte immer ein bisschen, selbst wenn man es gerade abgewischt hatte.
Ich hatte schon tausendmal allein gegessen. Aber das hier war anders. Niemand bereitet einen darauf vor, mit vierzehn seine Mutter zu verlieren. Es gab kein Schulfach, in dem man lernte, alleine aufzuwachen und ins Bett zu gehen, weil die eigene Mutter nicht mehr lebte.
»Schule wird überbewertet«, hatte meine Mutter einmal gesagt. »Aber du musst trotzdem hingehen. Sie ist dein Ticket in eine bessere Zukunft.«
Meine Zukunft?, dachte ich. Ich hatte andere Sachen zu tun, als zur Schule zu gehen.
Meine blauen Haare glänzten in der Morgensonne. Ich hatte sie über die Weltkugel auf meinem Schreibtisch gehängt. Blau auf blau. 71 Prozent der Erdoberfläche waren mit Wasser bedeckt, und ich hatte noch nie das Meer gesehen. Ich nahm die Perücke und setzte sie auf. Ich betrachtete das fremde Mädchen im Spiegel meines Kleiderschranks.
Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und zog mein Notizheft aus der Schublade. Ich klappte es auf, und dann klappte ich es wieder zu.
Ich konnte nicht schreiben.
In der Küche füllte ich eine Schale mit Milch und kippte Cornflakes hinein. Ich wollte gerade anfangen zu essen, als das Telefon klingelte. Ich überlegte so lange, ob ich rangehen sollte, bis es aufhörte. Ich setzte mich auf das Sofa und wartete darauf, dass es noch einmal klingelte. Aber das Telefon lag stumm vor mir. Es riefen nicht viele Leute bei uns an. Da waren die Chefs meiner Mutter. Bestimmt fragten sie sich, warum meine Mutter nicht bei der Arbeit auftauchte. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass sie meine Mutter für unzuverlässig hielten. Ich musste ihnen Bescheid geben. Dann waren da noch Lea und meine Großmutter. Ich stellte mir vor, wie meine Großmutter in ihrer Zelle den Rosenkranz betete und Gott um Vergebung bat für das, was sie uns angetan hatte. Sie hatte keinen Kuchen verdient. Sie hatte es nicht verdient, dass ihr jemand einen Kuchen mit einer eingebackenen Feile ins Gefängnis schmuggelte. Lea konnte ich nicht anrufen. Nicht nach allem, was zwischen uns passiert war. Außerdem würde sie ihrer Mutter erzählen, dass ich nach Hause abgehauen war. Auf einmal kam mir der Gedanke, dass mein Vater angerufen haben könnte. Was, wenn er vom Tod meiner Mutter gehört hatte? Was, wenn ich die Chance verpasst hatte, ihn kennenzulernen, weil ich nicht rangegangen war?
Nachdem ich die Cornflakes gegessen hatte, trank ich die zuckrige Milch aus der Schale und dachte, dass es schön wäre, eine Katze zu haben. Tagsüber würde sie sich vom Küchentisch, vom Sofa und vom Schrank fallen lassen und immer auf ihren Beinen landen. Nachts, wenn ich schlecht geträumt hatte, würde sie so lange schnurrend neben mir liegen, bis ich wieder eingeschlafen war.