40

A m nächsten Morgen hatte mein Vater schon den Tisch gedeckt, als ich nach unten kam. Er war gerade dabei, Spiegeleier zu braten.

»Hast du gut geschlafen?«, fragte er.

Ich nickte. Ich hatte tief geschlafen und nichts geträumt. Zumindest erinnerte ich mich nicht daran, was beinahe dasselbe war.

»Wie willst du dein Spiegelei?«

Ich verstand die Frage nicht.

»Von beiden Seiten gebraten? Das Eigelb flüssig oder fest?«

»Wie schmeckt es am besten?«, wollte ich wissen.

»Ich esse meins flüssig.«

»Okay, ich auch.«

Mein Vater nahm meinen Teller und lud zwei Eier darauf ab.

Dann setzte er sich und bestrich seine Brötchenhälfte mit Butter und Marmelade.

»Hast du schon einmal Sanddorn-Marmelade gegessen?«

Ich schüttelte den Kopf. Er hielt mir das Brötchen hin, und ich biss ab. Die Marmelade schmeckte süß und sauer zugleich.

»Billie?«, fragte mein Vater jetzt. »Warum bist du hier? Was ist mit deiner Mutter?«

»Ich wollte dich kennenlernen. Aber ich musste dich zuerst ausspionieren. Deshalb bin ich in dein Gartenhaus eingezogen, und deshalb habe ich mich ins Haus geschlichen.«

»Weiß deine Mutter, dass du hier bist?«

Ich atmete tief ein. Und dann sagte ich es einfach. »Meine Mutter ist tot.« Ich konnte sehen, wie die Bombe einschlug.

Mein Vater legte das Messer auf den Teller. Seine Hand zitterte. Das Silber traf auf das Porzellan, und es klirrte leise.

Ich erzählte von meiner Großmutter und dass es einen Streit gegeben hatte. Ich erzählte vom Sturz und vom Krankenhaus. Den Rest ließ ich weg.

Während ich erzählte, passierte etwas Seltsames. Es war, als ob es ein winziges bisschen weniger wehtat als beim letzten Mal in Frau Kruses Küche.

Als ich fertig war, verbarg mein Vater sein Gesicht mit den Händen. Er saß einfach nur da und bewegte sich nicht. Erst nach einer ganzen Weile sah er wieder hoch. Seine Augen waren gerötet, aber trocken. Meine Mutter hatte mir einmal erzählt, dass manche Menschen nach innen weinen.

»Es tut mir leid«, sagte mein Vater, ohne mich dabei anzusehen. »Ich habe deine Mutter sehr geliebt.«

Es kam mir so vor, als würde er zu sich selbst sprechen. Ich dachte an die Zeichnungen, die er von meiner Mutter gemacht hatte, und ich wusste, dass es stimmte. Jetzt ärgerte ich mich, dass ich keine der Zeichnungen mitgenommen hatte, um sie später in meinem Zimmer aufzuhängen.

»Aber warum hast du uns dann verlassen?«

Jetzt starrte mein Vater mich an. »Hat dir das deine Mutter erzählt?«

»Ja.«

»Ich habe euch nicht verlassen. Deine Mutter hat mich verlassen.«

In meinem Magen begann es zu rumoren.

»Ich habe ihr einen Heiratsantrag gemacht. Kurz danach ist sie gegangen. Einfach so. Das war vor zwölf Jahren.«

Ich wollte fragen, warum meine Mutter ihn verlassen hatte. Ich wollte fragen, warum er mich nie gesucht hatte.

Aber mein Vater legte das kalte Spiegelei auf sein Brot und biss hinein. Er schaute aus dem Fenster und sagte mit vollem Mund: »Heute bleibt es trocken.«

Da wurde mir klar, dass ich heute nichts mehr aus ihm herauskriegen würde. Ich sah, wie mein Vater sich verschloss, aber ich konnte seinen Code noch nicht knacken.

Nach dem Frühstück brach mein Vater wieder auf, genauso wie die letzten Tage. »Ich bin in ungefähr drei Stunden wieder da«, sagte er. Um seinen Hals baumelte ein Fernglas, und er trug eine dunkelgrüne Hose. Sie glänzte, als ob sie nass wäre.

»Wo gehst du hin?«, fragte ich.

»Zu den Vögeln«, sagte mein Vater.

»Welche Vögel?«

»Oh, sehr viele verschiedene. Vielleicht sehe ich eine Kornweihe.«

Ich hatte keine Ahnung, wovon mein Vater sprach. Aber ich wusste, dass ich nicht den ganzen Tag in der Küche sitzen bleiben und aus dem Fenster starren konnte. »Darf ich mitkommen?«

Mein Vater fror mitten in der Bewegung ein. Es war, als ob ihn jemand steuerte und aus Versehen den Pausenknopf erwischt hatte. Ich wollte mich gerade wieder ausladen, als er sagte: »Du musst andere Schuhe anziehen. Hast du wasserfeste Schuhe?«

Ich schaute zu meinen Füßen. Meine Turnschuhe waren einmal weiß gewesen. Jetzt waren sie graubraun, und am linken Schuh lösten sich die Nähte. »Nein«, sagte ich.

»Moment«, sagte mein Vater.

Ein paar Minuten später kam er mit einem Paar Gummistiefeln und dicken Socken zurück. Sie passten perfekt. Ich überlegte, ob meine Mutter die Stiefel getragen hatte. Aber ich fragte lieber nicht.

Ich war erst ein paar Tage hier, aber eines hatte ich schon gelernt: Der Wind wehte immer, die Frage war nur, wie stark. Ich zog die Kapuze meines Sweatshirts über den Kopf. Aber kaum traten wir aus der Haustür, wurde sie nach hinten geweht.

»Ganz schön stürmisch heute«, sagte ich.

»Nee«, sagte mein Vater. »Das ist nur een bietje Wind.« Dann musterte er mich. »Du brauchst andere Kleidung. Mit diesen Stadtklamotten kommst du nicht weit.«

Ich schwieg. Ich hatte keine Ahnung, ob mein Vater wusste, dass ich mir keine neue Kleidung leisten konnte. Aber wahrscheinlich sah er es mir an.

»Wir werden mal bei Swantje vorbeigehen müssen«, sagte mein Vater.

»Wer ist Swantje?«

»Swantje hat einen Laden und verkauft Jacken und Regenhosen an Touristen.«

»Nur an Touristen?«, wollte ich wissen.

»Nein, natürlich nicht. Aber die Inselbewohner werden schon mit Funktionskleidung geboren.« Der linke Mundwinkel meines Vaters zuckte.

»Meine Mutter konnte Funktionskleidung nicht leiden«, sagte ich. Ich machte die Stimme meiner Mutter nach: »Was ist die Funktion daran? Dass man hässlich aussieht?«

Mein Vater ging nicht darauf ein. Stattdessen fragte er: »Und was ist mit dir?«

»Ich liebe Funktionskleidung.«

Das hatte ich eben beschlossen. Und ich sagte es so, als ob die Liebe meines Lebens vor mir stünde.

Es war ganz einfach: Wenn alle hässliche Windjacken und Regenhosen trugen, dann spielte es keine Rolle, wenn man selbst welche trug. Und ich hatte hier noch niemanden in den neuesten Markenklamotten gesehen. Hier trug niemand Lederjacken, die man offen ließ, weil es cooler aussah, egal, ob man sich dabei den Hintern abfror. Niemand stöckelte auf hohen Schuhen. Niemand hatte winzige Handtaschen in der Armbeuge. Hier trug man Rucksäcke und Stirnbänder und Wanderschuhe.

Mittlerweile war der gepflasterte Weg in einen Sandweg übergegangen. Auf den Dünen wuchs weniger Moos, es gab weniger Büsche und andere Pflanzen, deren Namen ich nicht kannte. Bäume gab es beinahe gar keine mehr.

Erst jetzt fiel mir auf, wie viele unterschiedliche Gesichter die Insel hatte. Wenn einem langweilig wurde, dann musste man nur um ein, zwei Ecken biegen, und alles sah anders aus. Hier war die Landschaft heller. Auf einmal konnte ich wieder bis zum Horizont sehen.

»Warst du schon einmal hier draußen?«, fragte mein Vater.

Ich schüttelte den Kopf.

»Das ist der schönste Teil«, sagte er. »Vor uns liegt die Leegde. Dahinter beginnt die Ostplate. Das ganze Gebiet gehört zum Nationalpark. Pro Jahr rasten dort zwölf Millionen Zugvögel.«

Zwölf Millionen Vögel, das war eine ganze Menge.

»Das wird ziemlich eng«, sagte ich.

Mein Vater lachte. »Sie kommen natürlich nicht alle gleichzeitig.«

»Woher weiß man, dass es zwölf Millionen sind?«

»Sie werden gezählt.«

Das klang wie eine Strafarbeit aus der Hölle.

»Das dauert ja ewig!«, sagte ich.

»Es gibt Tricks. Wirklich gezählt werden nur die kleinen Schwärme. Die großen werden geschätzt.«

So lange hatte ich meinen Vater noch nie am Stück reden hören. Es war ein bisschen wie im Erdkunde- oder Biounterricht zu sitzen, nur besser. Aber kaum hatte ich den Gedanken zu Ende gedacht, verstummte er.

Wir gingen ein ganzes Stück, ohne dass einer von uns ein Wort sagte. Ich atmete im Takt meiner Schritte. Ich weiß nicht, ob es am Wind lag oder an der Aussicht. Jedenfalls machte die Insel alles in mir drin kleiner, aber auf eine gute Weise. Ich stellte mir meine Gedanken als Seifenblasen vor. Sie stiegen auf und wirbelten einen Moment lang durch die Luft. Und dann platzten sie einfach.

Irgendwann hielt mein Vater plötzlich an.

»Was ist?«, fragte ich.

»Da vorne«, sagte er und gab mir sein Fernglas.

Auf einer Sandbank sonnte sich eine Gruppe Seehunde. Ab und zu glitt einer von ihnen ins Wasser und schwamm ein paar Runden. Dann wuchtete er seinen Körper zurück aufs Trockene und ließ sich in den Sand fallen.

»Können wir näher an sie herangehen?«, wollte ich wissen, aber mein Vater schüttelte den Kopf. Das hier war trotzdem besser als ein Zoobesuch und außerdem gratis.

»Wir gehen jetzt wieder zurück.«

»Aber was ist mit dem Vogel, den du sehen wolltest?«

Mein Vater zuckte mit den Schultern. »Vielleicht morgen.«

»Was ist das für ein Vogel?«, wollte ich wissen.

»Die Kornweihe?«

Ich nickte.

»Ein Greifvogel.«

»Wie ein Adler?«

»Eher wie ein Mäusebussard mit einem Eulengesicht«, sagte mein Vater.

»Keine Ahnung, wie ein Mäusebussard aussieht.«

»Die Männchen sind blaugrau gefiedert und haben schwarze Flügelspitzen. Die Weibchen sind etwas größer als die Männchen. Sie haben ein braunes Obergefieder. Die Unterseite ist hellbraun und dunkel gestrichelt, und die Schwanzfedern sind gebändert.«

»Was bedeutet gebändert?«

»Weißt du, wie ein Waschbär aussieht?«

Ich nickte.

»Sein Schwanz ist auch gebändert.«

Mein Vater gab sein Bestes, aber ich hielt trotzdem den ganzen Rückweg über Ausschau nach einer Eule mit Waschbärschwanz.

»Zu Hause zeige ich dir ein Foto«, sagte er.

Wir sahen unterwegs noch viele andere Vögel, und mein Vater wusste alles über sie. Zu jedem Vogel erzählte er mir eine Geschichte. Er wusste, was sie fraßen, wo sie überwinterten, woher ihr Name kam und ob sie vom Aussterben bedroht waren. Wir sahen Knutts und Goldregenpfeifer, Austernfischer und Kiebitzregenpfeifer. Sie stolzierten über die Salzwiesen, flogen in großen Schwärmen davon und kamen in großen Schwärmen an. Und wir sahen Möwen. Ich hatte nicht gewusst, dass es so viele verschiedene Möwenarten gab. Ich erzählte meinem Vater die Geschichte von den Möwen und dem Hund, aber er lachte nur.

»Unsinn«, sagte er.

Ich hatte noch nie so viele Vögel auf einmal gesehen. Es war das reinste Vogelparadies. Nur eine Kornweihe sahen wir nicht.

»Man sieht sie leider relativ selten«, sagte mein Vater. »Im Sommer brüten sie zwar manchmal auf der Insel, aber jetzt kommen nur die Durchzügler aus dem Norden. Manche von ihnen überwintern dann zumindest hier.«

Wenn ich ein Zugvogel wäre, müsste ich nicht lange überlegen. Die Insel war zwar schön, aber kalt. Natürlich würde ich mir einen wärmeren Ort aussuchen. Florida zum Beispiel. Ich stellte mir gerade einen sonnigen Palmenstrand vor, aber mein Vater redete schon weiter.

»Mal sehen, wie lange sie überhaupt noch auf der Insel brüten. Im Sommer kommen die Touristen mit ihren Hunden und trampeln durch die Dünen.«

Mein Vater sah aus, als ob er am liebsten jeden Einzelnen von ihnen angezeigt hätte.

Die Kornweihe ist ein stolzer, schöner Vogel. Ich konnte es nicht fassen, dass er vom Aussterben bedroht war.

Ich saß auf dem Sofa und blätterte in dem Vogelführer, den mein Vater mir gegeben hatte. Früher hatte ich gedacht, Vögel wären langweilig und Vogelbeobachtung wäre nur etwas für alte Menschen und Langweiler. Aber jetzt begriff ich, dass es einen Unterschied machte, ob man Fotos von Vögeln anschaute oder sie in echt sah. Es machte einen Unterschied, ob man Tauben in der Stadt auf dem Marktplatz beobachtete oder Kiebitze im Watt.

Mein Vater kochte ein spätes Mittagessen. Der Geruch von angebratenen Zwiebeln zog ins Wohnzimmer und lockte mich in die Küche. Es gab Schollenfilet mit Kartoffelbrei.

Es war das Beste, was ich seit Langem gegessen hatte.

»Warum schmeckt der Kartoffelbrei so gut?«, fragte ich mit vollem Mund und dachte an den Kartoffelbrei, den meine Mutter und ich oft gegessen hatten. Man musste nur ein bisschen Wasser in die Tüte füllen und das Ganze in die Mikrowelle stellen. Im Vergleich zu diesem Kartoffelbrei hier hatte unsrer wie Kleister geschmeckt.

»Das Geheimnis sind natürlich die Kartoffeln«, sagte mein Vater. »Diese hier sind besonders aromatisch.«

Ich schob mir noch einen Löffel in den Mund. »Irgendwie nussig«, sagte ich.

Mein Vater nickte. »Außerdem nehme ich Butter und Sahne.« Und dann sagte er: »Das war das Lieblingsessen deiner Mutter.«

Beinahe hätte ich mich verschluckt. Am liebsten hätte ich sofort mein Notizheft aufgeklappt und das aufgeschrieben. Aber ich konnte mich gerade noch beherrschen.

Als ich später in meinem Zimmer war, schrieb ich nur zwei Sätze: Meine Mutter ist schon da. Alles, was ich tun muss, ist warten.

An diesem Abend konnte ich nicht einschlafen.

Ich fragte mich, warum meine Mutter und ich jahrelang Kartoffelbrei aus der Tüte gegessen hatten. Kartoffeln waren nicht einmal teuer. Kartoffelbrei war nicht einmal ein schwieriges Rezept. Und ich fragte mich, wie lange ich warten musste. Wie lange würde es dauern, bis mein Vater reden würde?

Außerdem war der Wind stärker geworden. Zuerst hatte er nur gewinselt, aber jetzt heulte er ums Haus. Die Dachbalken knarzten, und die Fensterläden klapperten in ihren Verankerungen. Das ganze Haus stöhnte und seufzte. Bestimmt würde es nicht mehr lange dauern, bis die Schafe durch die Luft flogen.

Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und stand auf.

Als ich nach unten kam, hörte ich Musik. Einen Moment lang glaubte ich, dass ich mich verhört hatte. Ich blieb im Flur stehen und lauschte. Die Wohnzimmertür stand einen Spalt offen. Mein Vater lag auf dem Sofa. Zuerst dachte ich, er würde schlafen, aber dann sah ich, dass er mit geschlossenen Augen zuhörte.

»Miles Davis«, sagte ich, und mein Vater zuckte zusammen. »Wie heißt das Stück?«, wollte ich wissen.

»Billie’s Bounce«, sagte mein Vater und setzte sich auf.

»Wirklich?«, fragte ich.

»Ja. Du kennst das Stück nicht, aber du weißt, dass Miles Davis spielt?«

»Das war nur geraten«, sagte ich. »Ich kenne nur ein Album von ihm. Aber dieses Stück ist nicht drauf.«

»Kind of Blue?«

»Genau.« Ich erzählte ihm nicht, dass ich das gleiche Album in den Sachen meiner Mutter gefunden hatte. Ich erzählte ihm auch nicht, wie meine Mutter auf die Musik reagiert hatte.

»Spielst du ein Instrument?«, wollte mein Vater wissen.

Ich hatte meine Mutter nie danach gefragt. Ich wusste, dass man Instrumente ausleihen konnte. Den Unterricht musste man aber trotzdem bezahlen.

»Nein«, sagte ich. »Aber ich bin gut darin, so zu tun, als ob.« Ich schloss die Augen und fühlte das kalte Metall an meinen Lippen und Händen. Mein Herz schlug im Dreivierteltakt, und meine Finger und Beine bewegten sich beinahe wie von selbst.

Mein Vater lachte. »Sehr professionell.«

Ich öffnete die Augen und setzte mich neben ihn auf das Sofa.

»Kannst du nicht schlafen?«, fragte mein Vater.

Ich schüttelte den Kopf.

»Der Wind?«

»Ja. Das Haus ist zu laut.«

»Den ersten Sturm vergisst man nie«, sagte mein Vater. »Ich war fünf, als es hier einmal so gestürmt hat, dass das halbe Dach weggeflogen ist. Und jetzt höre ich den Wind kaum noch.«

»Glaubst du, man gewöhnt sich an alles?«

»Gute Frage«, sagte mein Vater. »Ich glaube, man gewöhnt sich an das, woran man sich gewöhnen will.«

Mein Vater stand auf, lief zum Plattenspieler und setzte die Nadel um. Es kratzte, bevor der erste Ton erklang. Wir hörten das Album gemeinsam von vorne, und als wir am Ende angekommen waren, war der Sturm durchgezogen.