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A uf einmal war der Gedanke, meine Großmutter anzurufen, nicht mehr schlimm. Ich wollte gerade nach dem Telefonhörer greifen, da klingelte es. Einen Moment lang dachte ich, das Telefon hätte geklingelt. Aber es war die Klingel an der Tür. Ludger war in der Küche und räumte die Reste vom Mittagessen weg. Es hatte Fischsuppe gegeben.

Ich hörte seine Schritte im Flur.

Ich konnte nicht sehen, wen er hereinbat. Aber die Stimme kam mir sofort bekannt vor. Ich humpelte zur Wohnzimmertür. Mittlerweile kam ich schon ganz gut ohne die Krücken zurecht. Meine Füße waren fast verheilt.

Es war Frau Kruse.

Am liebsten wäre ich auf sie zugerannt, aber dann blieb ich doch im Türrahmen stehen. »Hallo, Frau Kruse«, sagte ich stattdessen und winkte mit einem Taschentuch, das ich gerade in der Hand hielt.

»Hallo, Meermädchen!«, sagte Frau Kruse.

Ihr Blick stellte Fragen.

Ludgers Blick stellte auch Fragen.

»Es ist lange her«, sagte Frau Kruse, jetzt an Ludger gewandt. »Sie haben meiner Tochter Reitunterricht gegeben.« Während Frau Kruse sprach, veränderte sich ihre Stimme. Sie wurde so weich, als hätte sie Angst davor, etwas kaputt zu machen.

»Ja, natürlich! Edda! Kommen Sie herein!«, sagte Ludger. Er streckte den Arm aus, um Frau Kruses Mantel zu nehmen. Im selben Moment drehte Frau Kruse sich zur Seite, und der Mantel glitt von ihren Schultern. Ludger fing ihn auf. Es sah aus wie ein kleiner Tanz.

Wir setzten uns in die Küche. Ludger wärmte für Frau Kruse Fischsuppe auf. »Woher kennt ihr euch?«, fragte er.

»Billie, willst du erzählen?«, fragte Frau Kruse und tauchte den Löffel in die Suppe. Ihre Handtasche hatte sie über die Stuhllehne gehängt.

Ich erzählte von den Zertifikaten bei den Sachen meiner Mutter, von der Frau in der Volkshochschule und von meinem Besuch bei Frau Kruse. Nur von meiner Entdeckung auf dem Friedhof erzählte ich nichts. Ich wusste nicht, ob Ludger davon wusste. Und ich wollte Frau Kruse nicht in eine unangenehme Situation bringen.

»Nach deinem Anruf habe ich mir Sorgen gemacht«, sagte Frau Kruse und sah mich an. »Ich wusste nicht, was du damit meintest, dass du bald nach Hause kommst. Erst dein Bad im Meer, dann der Anruf …«

»Welches Bad im Meer? Welcher Anruf?«, sagte Ludger.

Er öffnete eine Flasche Weißwein und füllte unsere Gläser. Vielleicht hatte er vergessen, dass erst früher Nachmittag war. Vielleicht dachte er nicht daran, dass ich zu jung war für Alkohol. Vielleicht war es ihm aber auch für den Moment einfach egal.

»Ich habe Frau Kruse angerufen, als du wolltest, dass ich meine Eltern anrufe.«

»Und wann warst du im Meer?«

»Das war vorher. Aber eigentlich spielt das jetzt auch keine Rolle.«

Ludger nickte.

Frau Kruse tupf‌te sich den Mund mit der Serviette ab und trank einen Schluck Wein. »Ludger, ich wusste ja gar nicht, dass Sie auch eine Tochter haben.«

Frau Kruse sagte auch . Sie sprach über ihre Tochter, als würde sie noch leben. Vielleicht sprach Frau Kruse mit ihrer Tochter, so wie ich mit meiner Mutter sprach. Vielleicht blieb das jetzt für immer so.

Ludger sah zu mir. Dann sagte er: »Marika hat Billie damals mitgebracht. Sie ist nicht meine biologische Tochter.«

»Ach«, sagte Frau Kruse. »Und dein Vater …«

»… ist ein Arschloch«, sagte ich und zuckte mit den Schultern.

»Woher wussten Sie, dass Billie mich gefunden hat?«, fragte Ludger jetzt.

Frau Kruse lächelte. »Meine Schwester hat Sie gesehen – mit einem Mädchen. Es war nicht schwer herauszufinden, dass es Billie ist.«

»Dachten Sie, ich hätte Billie gekidnappt?«

Frau Kruse verschluckte sich fast an ihrem Wein. »Nein, natürlich nicht! Und falls doch, wären Sie ja nicht weit gekommen.«

»Aber Sie wollten trotzdem nach dem Rechten sehen?«

»Natürlich.«

»Weil ich ein alter Knacker bin, der kaum Kontakt zur Außenwelt hat?«

Oh, Ludger, dachte ich und musste grinsen. Plötzlich kam er mir wie jemand vor, mit dem ich tatsächlich verwandt sein könnte. Vielleicht hatte meine Mutter auf ihn abgefärbt. Ich hatte mal gelesen, dass Paare irgendwann sogar anfingen, sich äußerlich zu ähneln. Aber so was passierte erst nach fünfzig Jahren oder so. Keine Chance also, dass da draußen ein Mann herumlief, der wie meine Mutter aussah.

Frau Kruse blieb ganz ruhig.

Sie legte ihre schlanke Hand mit den langen Fingern auf den Tisch. Sie trug keinen Ehering, aber an ihrem Mittelfinger steckte ein großer Silberring. Dann beugte sie sich vor und sagte: »Ihr Humor gefällt mir. Ich wollte einfach wissen, wie Billies Geschichte weitergegangen ist. Und ich wollte sicher sein, dass es ihr gut geht.«

»Und?«, fragte Ludger in meine Richtung.

Ich grinste immer noch, und ich konnte nichts dagegen tun. »Es geht mir gut«, sagte ich.

Und das stimmte.

Frau Kruse und Ludger unterhielten sich weiter. Je länger sie miteinander redeten, desto weniger schien ihnen aufzufallen, dass ich auch noch am Tisch saß, als wäre ich unsichtbar. Aber sie sprachen ohnehin nur über Leute, die ich nicht kannte, und über Inselpolitik, die mich nicht interessierte.

Ich döste mit offenen Augen vor mich hin, bis Ludger mir plötzlich das Weinglas wegnahm. »Hey!«, sagte ich.

»Du hattest jetzt wirklich genug«, sagte er, und ich protestierte nicht. Meine Zunge lag in meinem Mund wie ein schwerer toter Fisch. Als Nächstes erinnere ich mich daran, dass ich auf dem Sofa lag. Ludger reichte mir eine Tasse.

»Igitt«, sagte ich, als ich daran nippte.

»Runter damit«, sagte Ludger.

»Wo ist Frau Kruse?«, fragte ich und fühlte mich schon ein bisschen besser.

»Gegangen.«

»Warum?«

»Es ist schon sechs. Frau Kruse hat ein eigenes Haus. Hast du das vergessen? Du warst dort.«

Natürlich hatte ich es nicht vergessen.

Aber ich hatte vergessen, dass ein Tag auf der Insel um fünf eigentlich schon vorbei war.

»Gehen wir noch ein bisschen raus?«, fragte ich.

»Gute Idee«, sagte Ludger. »Wir treffen uns draußen.«

Der Mond war gerade aufgegangen, und der Sand knirschte unter unseren Schuhen.

»Ich habe deine Mutter sehr geliebt. Sie war klug und schön«, sagte Ludger.

Endlich, dachte ich. Und war nicht überrascht.

Der Mond machte das Herz weich, und ein weiches Herz machte einen gesprächig. Das wusste ich von meiner Mutter.

»Sie war nicht klug genug. Sonst hätte sie dich nicht verlassen.«

»Auch kluge Menschen können Angst haben«, sagte Ludger.

»Wie meinst du das?«

Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass meine Mutter jemals Angst vor etwas gehabt hatte. Meine Mutter konnte Spinnen streicheln, als wären sie Katzen. Sie fürchtete sich niemals im Dunkeln, und sie war vom Zehnmeterturm gesprungen. Und ich war sicher, wenn es einen Fünfzehnmeterturm gegeben hätte, wäre sie auch da runtergesprungen.

»Deine Mutter hat immer das Abenteuer gesucht. Ich glaube, sie hatte Angst davor, ein spießiges Leben zu führen.«

»Was ist ein spießiges Leben?«

»Keine Ahnung«, sagte Ludger. »In einem Haus wohnen. Heiraten. Kinder kriegen. Solche Dinge.«

Gott mochte es, wenn Menschen heirateten und Kinder bekamen. So ähnlich stand das jedenfalls in der Bibel.

»Glaubst du, meine Mutter ist gestorben, weil Gott sie bestrafen wollte?«

Ludger sah mich erschrocken an. »Nein, natürlich nicht!«

Dann sagte er leise: »Es ist so traurig, dass sie ausgerechnet dann gestorben ist, als sie hinter sich aufräumen wollte.«

Ich wusste natürlich, was er meinte. Aber ich war nicht sicher, ob Ludger recht hatte. Immerhin hatte sie meiner Großmutter unter einer Bedingung die Tür geöffnet: nicht über die Vergangenheit reden.

»Meine Mutter hat aufräumen gehasst.«

Ludger nickte. »Ich weiß.«

»Wie einsam warst du von eins bis zehn, als meine Mutter weg war?«, wollte ich wissen.

»Zwölf«, sagte Ludger. »Aber bestimmt trotzdem nicht so einsam wie du.«

»Sind dir auch die Haare ausgefallen?«

»Nein«, sagte Ludger. »Aber ein Zahn.«

»Ein Zahn?«

»Guck mal«, sagte er und präsentierte mir sein Gebiss. Ein Backenzahn fehlte. »Aber ich glaube nicht, dass das etwas mit deiner Mutter zu tun hatte. Es war Zufall. In meiner Familie hatten alle schlechte Zähne. Sei froh, dass ich nicht dein leiblicher Vater bin.«

Im Sand vor uns schimmerte etwas.

Ich bückte mich. Es war eine Muschel. Sie war wunderschön. Sie sah aus, als käme sie direkt aus dem Paradies. Ich hielt sie Ludger hin. »Was ist das für eine?«

»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ein Irrläufer vielleicht. So eine habe ich hier noch nie gesehen.«

Ich wollte die Muschel in meine Hosentasche stecken, aber sie war zu groß. Also behielt ich sie in der Hand.

»Am besten legst du sie zurück«, sagte Ludger.

»Warum?«

»Es gibt bestimmt einen Grund, warum sie hier ist, oder?«

Ich legte die Muschel in den Sand. Dann fragte ich: »Können wir an den Anfang zurückgehen? Erzählst du mir, wie du meine Mutter kennengelernt hast?«

Und dann fing Ludger an zu erzählen.

Er war meiner Mutter in Ungarn begegnet, auf einer Pferdemesse. Sie hatte dort als Hostess gearbeitet. Ludger hatte meine Mutter gesehen – und zack, war es um ihn geschehen. »Wir sind ein paarmal miteinander ausgegangen, und dann durf‌te ich euch kennenlernen.«

»Euch?«

»Dich und deine Großmutter. Deine Mutter hat ja wieder zu Hause gewohnt. Deine Großmutter hat mich zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Und eins kann ich dir sagen: Das war das einzige Süße an diesem Tag.«

Ich musste lachen. »Und dann? Was ist dann passiert?«

»Dann ist deine Mutter mit mir nach Deutschland gekommen. Am Anfang war alles neu. Aber dann kam der Alltag.«

Ich fand diese Zusammenfassung ziemlich kurz, aber ich wollte mich nicht beschweren. Stattdessen sagte ich: »Das war nach dem Foto, oder?«

»Welches Foto?«, fragte Ludger.

Das Foto steckte in meinem Notizheft, und mein Notizheft hatte ich immer dabei. Ich zog es heraus und hielt es Ludger direkt unter die Nase. »Das ist doch dein Arm, oder?«

»Ja, das ist mein Arm«, sagte er.

Und ich sagte: »Meine Mutter sieht glücklich aus.«

Und er sagte: »Ja, das war der Anfang.«

Ich versuchte, mir meine Mutter auf der Insel vorzustellen. Ich setzte sie auf das hässliche Sofa, ich drückte ihr eine Mistgabel in die Hand und stellte sie in den Stall, ich ließ sie am Strand spazieren gehen, ich legte sie unter die schwere Bettdecke. Irgendetwas daran funktionierte nicht. Es war, als wäre das Bild krisselig.

»Und das Ende?«, fragte ich.

»Das kam trotzdem unerwartet«, sagte Ludger. »Ich habe mich lange gefragt, was daran meine Schuld war.«

»Und weißt du es jetzt?«

Ludger steckte die Hände in die Jackentaschen. Es war kalt geworden. »Nein. Vielleicht hätte ich mehr mit deiner Mutter reden müssen.«

»Du kannst mich einfach nachmachen, wenn du üben willst. Im Reden bin ich ziemlich gut.«

»Im Weglaufen bist du aber auch ziemlich gut«, sagte Ludger.

»Das war früher.«

»Dann können wir ja jetzt nach Hause gehen.«

Und das taten wir.