Katja hatte lange überlegt, ob sie Tatjana noch vor dem Weihnachtsfest die traurige Nachricht überbringen sollte, und sich schließlich dafür entschieden. Am morgigen Samstag war das Trainingslager nach einem frühen Ausdauerlauf beendet, und sie alle würden nach Berlin zurückkehren – ohne Tatjana. Sie konnte schlecht abreisen, ohne dem Mädchen die Wahrheit zu sagen und deren Eltern informiert zu haben, damit diese ihre Tochter nach einer Genesungszeit aus dem Krankenhaus abholten.
Stefan war inzwischen im Bilde und würde das für heute angesetzte Abschlusstraining übernehmen. So hatte Katja Zeit, um in Ruhe mit Tatjana und ihren Eltern zu sprechen, die heute Nachmittag eintreffen würden.
Als der Wecker am frühen Morgen klingelte, hätte sie sich am liebsten unter der Bettdecke verkrochen. Die Vorstellung, nicht nur Tatjanas Tränen trocknen zu müssen, sondern auch die Enttäuschung ihrer Eltern mitzuerleben, verdarb ihr nämlich trotz Aussicht auf die bevorstehenden ruhigen Weihnachtsfeiertage an der Seite ihres Mannes die Laune.
»Reiß dich zusammen«, sagte sie und warf die Bettdecke zurück. Ihre Aufgabe war im Vergleich zu dem, was Tatjana nun bevorstand, ein Klacks.
Katja wusch sich zügig, putzte ihre Zähne und lief in die Speisebaracke. Ihre Athletinnen waren bereits beim Frühstück versammelt.
»Guten Morgen, Mädels«, sagte sie und baute sich vor dem Tisch auf. »Stefan übernimmt heute das Training. Ich habe noch einiges zu erledigen und werde außerdem am Nachmittag noch einmal nach Tatjana sehen. Heute Abend um acht erwarte ich euch alle hier zu einer Sitzung. Bis dahin sind eure Taschen gepackt, sodass wir morgen nach dem Morgenlauf nach Hause fahren können.«
»Kommt Tatjana denn nicht mit zurück?«
Es war Christiane, die nach ihrer Kameradin fragte, und ihre Stimme klang besorgt und ehrlich überrascht. Auch die anderen Mädchen sahen Katja gespannt an.
»Das kann ich euch beantworten, sobald ich mit dem Arzt gesprochen habe.« Die Lüge ging Katja leicht von den Lippen. Natürlich wusste sie genau, dass Tatjana nicht mit ihnen, sondern mit ihren Eltern zurückfahren würde. Doch nun war es wichtiger, dass die Mädchen sich noch einmal voll und ganz auf das Training konzentrierten.
In diesem Moment trat Stefan hinter sie, in den Händen ein Tablett mit vier kleinen Bechern.
»Hast du denn überhaupt schon gefrühstückt?«, fragte er Katja fürsorglich. »Nun kümmer du dich erst mal um dich und dann um Tatjana. Ich erledige unseren Hühnerhaufen hier.«
Die Mädchen protestierten lachend und räumten dann ihr Geschirr ab.
»He!«, rief Stefan ihnen nach. »Noch mal hier antanzen und Vitamine nehmen, aber dalli!«
Katja nickte ihrem zweiten Trainer dankbar zu. Bei ihrem Gespräch unter vier Augen hatten sie beschlossen, dass die Mädchen die für sie vorgesehenen Tabletten ab jetzt unter Aufsicht nehmen mussten. Erklärungen für dieses neue Prozedere hatten sie nicht gegeben, das würde Katja heute Abend nachholen.
Wenige Stunden später stand sie vor Tatjanas Krankenbett. Ihre Eltern saßen auf dem leeren Bett daneben und sahen Katja erwartungsvoll an.
»Hallo, zusammen. Die magst du doch sicher, oder?«, fragte Katja verlegen und legte Tatjana zwei Tüten Knusperflocken auf den Nachttisch.
»Ja klar.« Tatjanas Stimme klang müde und erschöpft und noch immer viel tiefer, als ihr Äußeres hätte vermuten lassen.
»Wie geht’s dir denn heute?«
Das Mädchen sah sie aus großen, fragenden Augen an, und in diesem Moment hasste Katja, was sie nun tun musste. Warum war es eigentlich ihre Aufgabe, diese schlechten Nachrichten zu überbringen? Sie war auf so eine Ausnahmesituation nicht vorbereitet! Man erwartete von ihr, dass sie souverän sagte, was es eben noch zu sagen gab. Statt also als Trainerin den Traum junger Sportler zu erfüllen, war es nun ihre Aufgabe, diesen ein für alle Mal zu zerstören. Katja schluckte und versuchte, sich zu sammeln. In diesem Moment wurde die Tür geöffnet, und Alexander betrat das Krankenzimmer.
»Hab ich doch richtig gesehen. Du bist da. Dann wird es wohl Zeit.«
Katja nickte. Als sie wieder zu Tatjana sah, bemerkte sie die Tränen, die dem Mädchen übers Gesicht liefen. Offenbar waren Worte gar nicht mehr nötig, sie wusste auch so, was nun auf sie zukam.
»Also ist es vorbei?«, fragte Tatjana leise.
»Vorbei?«, fragte ihre Mutter sofort. Ihre Stimme zitterte noch mehr als die ihrer Tochter. »Was soll das denn heißen? Was ist vorbei? Kann uns bitte jemand erklären, was genau eigentlich passiert ist?«
Alexander griff nach Tatjanas Hand und strich tröstend darüber. Für den Moment ignorierte er völlig, dass auch die Eltern des Mädchens im Raum waren. Stattdessen sprach er nur mit seiner Patientin.
»Wir müssen ehrlich sein«, sagte er mit sanfter Stimme. »Dein Körper und du, ihr habt uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Und wenn du deine Karriere als Sportlerin meinst, so muss ich dir als Arzt ehrlich sagen: Ja. Willst du deine Gesundheit nicht weiter gefährden, dann musst du sofort mit dem Leistungssport aufhören.«
Tatjana schluchzte laut auf und schlug sich die Hand vor den Mund, um weitere Geräusche zu unterdrücken. Katja und Alexander gaben ihr einen Moment, um sich zu sammeln.
»Aber warum nur? Wir verstehen das nicht!«, rief Tatjanas Vater aufgebracht. »Im Sommer war doch noch alles in bester Ordnung. Auch bei Tatis letztem Besuch am Wochenende vor dem Trainingslager ging es ihr noch gut. Wie kann denn jetzt auf einmal alles vorbei sein? Erklären Sie uns das gefälligst!«
»Bitte mäßigen Sie Ihren Ton«, gab Alexander ruhig, aber bestimmt zurück. »Genau dafür sind wir heute hier. Um Ihnen genau zu erklären, was Ihre Tochter durchgemacht hat.« Er wandte sich wieder an Tatjana und fuhr fort: »Das enorme Sportpensum ist nicht für jedermann geeignet. Manchmal streikt ein Körper, und darauf – ob wir das nun wollen oder nicht – müssen wir hören. Du hast eine Grippe verschleppt, Tatjana. Und das Virus hat sich auf deinen Herzmuskel gelegt. Darum deine körperliche Schwäche. Machst du jetzt mit dem Sport weiter, könntest du dein Herz ernsthaft schädigen.«
»Aber was reden Sie denn da?« Tatjanas Mutter sah den Arzt erbost an. »Unser Kind wurde nicht am Herzen operiert, ihr wurden harmlose Zysten entfernt!«
Katjas Puls raste, und hätte es eine Möglichkeit zur Flucht aus dieser Situation gegeben, so hätte sie sie in diesem Moment genutzt. Alexander blieb allerdings ruhig und gelassen, während er weitere Lügen auftischte.
»Richtig. Aufgrund der körperlichen Schwäche, die sich hier im Trainingslager besonders zeigte, haben wir sie selbstverständlich sorgfältig untersucht. Erst dadurch haben wir die Eierstockzysten festgestellt. Die sind bei Mädchen in der Pubertät nicht ungewöhnlich. Wir haben vor Ort hervorragende Ärzte. Sie wissen sicher, dass dies nicht nur einfach ein Trainingslager ist, sondern dass hier das Zentralinstitut des Sportmedizinischen Dienstes seinen Sitz hat, zu dem auch eine Klinik und ein Rehazentrum gehören. Wir konnten also sofort reagieren, und Ihre Frau hat ja auch telefonisch Ihr Einverständnis zu dieser Operation gegeben.«
»Natürlich habe ich das«, sagte Tatjanas Mutter nun etwas ruhiger. »Wenn mir ein Arzt erklärt, dass mein Kind Zysten hat, die böse Folgen haben könnten, wenn sie nicht entfernt werden, gibt es wohl keine andere Entscheidung als die für eine zügige Operation.«
»Vollkommen richtig.« Alexander nickte und lächelte und sah dann Katja auffordernd an.
Für den Bruchteil einer Sekunde schloss sie die Augen, dann straffte sie die Schultern und sagte, was sie in den vergangenen Tagen unzählige Male vor dem Spiegel geübt hatte.
»Ihre Tochter war leider nicht ganz ehrlich zu uns.« Tatjana riss entsetzt die Augen auf. Sanft lächelnd griff Katja nach ihrer Hand. »Und das verstehe ich nur zu gut! Der Sport bedeutet dir alles. Und wie hättest du denn auch wissen sollen, dass das, was du sicher nur für eine leichte Erkältung gehalten hast, so ernste Folgen haben könnte? Du hast deine Symptome für dich behalten, um weiter trainieren zu können. Niemand macht dir einen Vorwurf, Tatjana. Aber jetzt so weiterzumachen, ist wirklich gefährlich für dich. Ich bin kein Arzt, aber Dr. Fritsche hat mir erklärt, was eine Herzmuskelentzündung alles anrichten kann, wenn sie nicht auskuriert wird. Schonung ist jetzt das A und O für dich und deinen Körper.«
»Richtig«, sagte Alexander. »Irgendwann wirst du auch wieder moderat Sport machen können. Aber eben nicht mehr im Hochleistungsbereich und auch nicht in den nächsten Wochen und Monaten.«
»Aber was ist mit meinem Abschluss? Muss ich die KJS verlassen?«
»Diese Entscheidung überlassen wir dir. Nimm dir Zeit, und überlege dir über die Weihnachtsfeiertage, was das Beste für dich ist. Willst du an der KJS bleiben und dort dein Abitur machen, dann machst du das. Wechselst du lieber die Schule, um nicht immer daran erinnert zu werden, dass der Sport nun eben nichts mehr für dich ist, dann helfen wir dir natürlich dabei, eine passende Schule zu finden.«
Katja atmete einige Male ruhig ein und aus. Sie spürte, dass sich ihr Herzschlag wieder beruhigte, denn für sie war in diesem Moment alles gesagt. Es lag nun bei Tatjana und ihren Eltern, wie es weiterging. Doch ganz gleich, zu welcher Entscheidung sie gelangen würden – am Ende würden Verein und Funktionäre die Familie dazu zwingen, eine Verschwiegenheitsvereinbarung zu unterschreiben. Damit war sichergestellt, dass nie ein Wort über Trainingsmethoden und die Vergabe von unterstützenden Mitteln nach außen drang.
Katja hatte den schlimmsten Teil des Tages hinter sich gebracht, und als ihr Mann ihr mit den Augen zu verstehen gab, dass sie nun gehen könnte, verabschiedete sie sich eilig.
»Bei Fragen scheuen Sie sich nicht, Lehrer oder Trainer der KJS aufzusuchen. Wir sind in dieser schwierigen Zeit für Sie da, und natürlich werde ich in Zusammenarbeit mit dem Arzt einen Plan erstellen, mit dem du, Tatjana, abtrainieren kannst, ohne deine Gesundheit zu gefährden. Wenn Sie mich nun entschuldigen würden, die Mädchen warten auf mich.«
Auch das war eine glatte Lüge, denn vor der Sitzung am Abend wartete niemand auf sie. Ihr blieben zwei Stunden, in denen sie selbst packen und durchatmen konnte, ehe ihr ein letztes ernstes Gespräch bevorstand, das sie mit ihren Sportlerinnen zu führen hatte.